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Die mutmaßliche Neonazi-Terroristin Beate Zschäpe soll laut Anklageschrift die Drahtzieherin der Terrorgruppe NSU gewesen sein. Doch in den Ermittlungsakten dazu gibt es viele Ungereimtheiten.

Eisenach - Das gestreifte Sweatshirt mit Kapuze hängt ordentlich auf dem Bügel, daneben eine hellgraue Outdoor-Jacke. In den Fächern der schmalen Einbauschränke liegen Fahrradhelme, Sportsachen, ordentlich gefaltete Shirts und Pullover. Auch der Kühlschrank in dem Wohnmobil ist gut gefüllt: Schwarzwälder Schinken, Curry- und Bockwürste, Ketchup, Fleischsalat, Schnittkäse, Fruchtmilch, Joghurt, Schokolade, ein Päckchen „Du darfst“-Margarine. Die beiden Camper in diesem Wohnmobil hätten noch einige Zeit umherreisen können.

Sind sie aber nicht. Sie sind gestorben in diesem Fahrzeug, am 4. November 2011, kurz nach 12 Uhr. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten drei Stunden zuvor eine Sparkasse in der thüringischen Kreisstadt Eisenach überfallen und waren danach mit ihrem Wohnmobil in ein ruhiges Neubaugebiet im nahen Stregda gefahren, um die Fahndung abzuwarten. Als gegen 12 Uhr eine Polizeistreife hält und zwei Beamte aussteigen, um das Wohnmobil zu kontrollieren, fallen in dem Fahrzeug im Abstand von einigen Sekunden Schüsse. Dann lodern Flammen aus dem Dach. Es ist das ebenso spektakuläre wie bis heute rätselhafte Ende der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Mit Böhnhardt und Mundlos sterben zwei fast 14 Jahre lang im Untergrund lebende Neonazis, die neun Migranten und eine Polizistin erschossen und 15 Banken ausgeraubt haben sollen.

Einblick in die umfangreichen Ermittlungsakten

Beate Zschäpe, ihre Gefährtin, hatte am selben Tag die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand gesetzt und war geflohen, bevor sie sich vier Tage später der Polizei stellte. Die Bundesanwaltschaft hat sie jetzt unter anderem wegen Mordes und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Die Anklageschrift ist fast 500 Seiten lang. Detailliert werden darin die dem NSU zugeordneten Taten beschrieben. Das Geschehen am 4. November 2011 in Stregda bleibt aber weitgehend ausgespart.

In den umfangreichen Ermittlungsakten dazu, in die unsere Zeitung Einblick nehmen konnte, sind auf unzähligen Fotos Beweisstücke aus dem Wohnmobil dokumentiert. Die Tatortexperten haben darüber hinaus Übersichtsaufnahmen vom Inneren des durch den Brand stark beschädigten Fahrzeugs erstellt. Sie entstanden, nachdem das Feuer gelöscht und das Wohnmobil in eine Halle in Eisenach abtransportiert worden war. Dort erst wurden auch die Leichen geborgen.

Die Fotos zeigen viele, darunter auch bislang unbekannte Details, die Auskunft geben können über die letzten Tage der beiden Terroristen. Auffällig ist zunächst das Alltägliche, Banale, das sich in den geborgenen Gegenständen dokumentiert. Der volle Kühlschrank, die aufgeräumten Ablagefächer, die wenig abgetragenen Kleidungsstücke, Markenware zumeist, von Tom Tailor, Camp David und Denim. In einem Wäschekorb liegen Computerspiele, wie sie viele junge Leute spielen, „Command & Conquer“, Civilization IV“. Daneben selbstgebrannte DVDs mit Spielfilmen und TV-Serien: Actionstreifen wie „Bunraku“ und „Ironclad“, Thriller wie „The Tourist“ und „Source Code“, in denen es um wechselnde Identitäten und ein Leben auf der Flucht geht, eine Staffel der US-Comedyserie „Big Bang Theory“. Zum Spielen einen Schachcomputer und mehrere Sammelkartensätze eines Fantasyspiels.

Musik-CDs mit den Hits der 80er und 90er

Im Fahrerhaus fand die Spurensicherung Kinderspielzeug: ein Plüschbär, eine Plastikpuppe, eine Wasserspritzpistole. Als Böhnhardt am 25. Oktober 2011 das Wohnmobil im vogtländischen Schreiersgrün abholte, waren auch eine Frau und ein Kind dabei. Beate Zschäpe soll die Frau gewesen sein, wer das Kind war, das zu ihr Mama gesagt haben soll, weiß man bis heute nicht.

Im Ablagefach des Fahrerhauses lagen auch zwei selbst gebrannte Musik-CDs. Kein Nazi-Rock ist darauf, sondern eine Platte der finnischen Band Nightwish, die schwülstigen Metal-Rock spielt, und eine Zusammenstellung von Pop- und Rocksongs der 80er und 90er Jahre.

Die Übersichtsaufnahmen vom Inneren des Wohnmobils zeigen viel Brandschutt, der von der durchgeschmorten Wand- und Deckenverkleidung und den Plexiglasfenstern auf Möbel und Fahrzeugboden gefallen ist. Die Einbauschränke, Betten und Sitze sind zwar völlig verrußt, ihr Inhalt aber nicht verbrannt. Selbst in den Ablagefächern über der Sitzecke sind die in Wäschekörben aus Plastik verstauten Gegenstände weitgehend unbeschädigt geblieben.

Was hat sich in den wenigen Sekunden im Fahrzeug abgespielt?

Nur der hintere Platz in der Sitzecke und die Wand dahinter sind schwarz und angekohlt. Hier brach laut der Akte das Feuer aus. Aber was hat hier gebrannt? Die Experten vermuten, dass Mundlos dort einen Papierstapel angezündet hat. Spuren von einem Brandbeschleuniger hat man nicht gefunden. Die Gasflaschen unter dem Herd sind unbeschädigt. Zwar wurden zwei Herdschalter aufgedreht – Gas strömt aber nur aus, wenn man die Schalter gedrückt hält.

Im Mittelgang ist eine große Blutlache zu erkennen. Hier lag, mit den Füßen zum Fahrerhaus, die Leiche von Uwe Böhnhardt. Unter seinem Körper war eine durchgeladene, aber nicht abgefeuerte Pumpgun. Im hinteren Teil des Innenraums, vor Böhnhardts Kopf, fanden die Beamten die Leiche von Uwe Mundlos. Zu seinen Füßen lag eine zweite Pumpgun, mit der er sich offenbar in den Mund geschossen hatte. Die Patronenhülse des tödlichen Schusses fand sich neben ihm auf dem Boden.

Die tödlichen Schüsse und das Entfachen des Feuers hat sich innerhalb eines Zeitraums von sieben bis 20 Sekunden abgespielt. So schildern es die beiden einzigen Ohrenzeugen des Geschehens am Tatort, die Polizeibeamten, die mit ihrem Streifenwagen am 4. November 2011 gegen 12 Uhr das Wohnmobil in Stregda erreichten. Dass aus dem Fahrzeug heraus auf sie geschossen wurde, was die Beamten zunächst vermutet hatten, scheint inzwischen widerlegt. Es gibt – außer einem nicht identifiziertenKnallgeräusch – kein Indiz dafür.

Was aber hat sich in den wenigen Sekunden im Fahrzeug abgespielt? Offenbar, das zeigt die Akte, waren Mundlos und Böhnhardt auf ein mögliches Feuergefecht mit der Polizei eingestellt. Beide hatten Pumpguns zur Hand. Auf der Sitzecke lag eine Maschinenpistole mit ausgeklapptem Schulterstück, auf dem Boden im Bad eine der beiden beim Polizistenmord in Heilbronn geraubten Dienstpistolen. Die andere , die der ermordeten Polizistin Michelle Kiesewetter gehörte, lag griffbereit auf dem Tisch in der Sitzecke. Auf dem Herd lag ein Revolver, mit dem die beiden schon bei einem Bankraub in Zwickau 2006 auf einen Angestellten geschossen hatten. Schließlich befand sich auch noch auf dem Bett im Heck des Fahrzeugs eine Pistole. Sieben Waffen, alle waren durchgeladen.

Dennoch entschieden sich die beiden Killer innerhalb weniger Sekunden zum gemeinsamen Selbstmord. Oder gab es einen Streit? Nach offizieller Darstellung tötete Mundlos Böhnhardt mit einem Schuss in die Schläfe und anschließend sich selbst. Auf den Fotos vom Wohnmobil sind jedoch – das war bislang unbekannt – zwei Löcher im Fahrzeugdach zu erkennen, die von Geschossen herrühren. Eins davon ist im hinteren Teil des Fahrzeugs, wo sich Mundlos auf dem Boden sitzend in den Mund geschossen hatte. Das andere befindet sich im vorderen Teil des Wagens. An der Seitentür muss Böhnhardt gestanden haben, als der tödliche Schuss auf ihn fiel. Wenn das Loch aber von diesem Schuss stammt, dann müsste Mundlos von unten her aufseinen Freund geschossen haben.

Es gibt noch ein weiteres merkwürdiges Detail in der Akte. Auf dem hinteren oberen Schlafplatz lagen mehrere Bekleidungsstücke und darauf ein nagelneuer Tourenrucksack. Was auffällt: Während Matratze und Textilien deutliche Schmutzspuren aufweisen, verursacht offenbar von dem durch die Hitzeeinwirkung geschmolzenen Plexiglasfenster über dem Bett, ist der darauf liegende Rucksack fleckenlos.

Und noch etwas ist seltsam: Am 5. November 2011, als die Beweisstücke von der Tatortgruppe aus dem Wohnmobil geborgen und dokumentiert wurden, ist von den Beamten auch der Rucksack durchsucht worden. Sein Inhalt wird an diesem Tag fotografisch festgehalten. Das Bild aus der Ermittlungsakte zeigt mehrere, mit Banderolen versehene Geldbündel mit über 23 000 Euro aus einem wenige Wochen zurückliegenden Bankraub in Arnstadt sowie drei Kartons mit Patronen aus den Innentaschen. Aber erst einen Monat später, am 1. Dezember, findet die Polizei laut der Ermittlungsakte plötzlich noch etwas anderes im Rucksack – in einer Innentasche stecken sechs DVDs mit dem NSU-Bekennervideo.

Wären diese DVDs nicht am 5. November übersehen worden, hätten die Ermittler schon mindestens vier Tage eher Hinweise auf den terroristischen Hintergrund der Zwickauer Zelle gehabt. Die Bundesanwaltschaft übernahm jedoch erst am 10. November, sechs Tage nach dem Brand des Wohnmobils, die Ermittlungen, nachdem einen Tag zuvor DVDs mit dem Bekennervideo im Brandschutt der Zwickauer Wohnung der Terrorzelle gefunden worden waren.

Es bleibt die Frage, warum die Beamten von der Tatortgruppe am 5. November die sechs DVDs im Rucksack nicht gefunden haben. Sollten sie wirklich dieInnentasche übersehen haben?