Nicht alle wollen, dass der Einfluss der Muslime in Deutschland wächst. Foto: dpa

Der Islam ist nicht nur Religion er ist auch Grundlage für komplexe gesellschaftliche Gebilde. Hier eine kurze Klärung der wichtigsten Fragen.

Stuttgart - Islam: Bei Diskussionen über den Islam zeigt sich ein zentrales Problem: „der“ Islam existiert ebenso wenig wie „das“ Christentum. Das Christentum wird zwar durch Protestantismus und Katholizismus dominiert, aber es gibt auch in Deutschland die neuapostolische Kirche, Zeugen Jehovas und eine Vielzahl weiterer kleiner Gemeinden, freikirchlicher Organisationen, die griechische, serbische und russische Orthodoxie. Nicht anders verhält es sich beim Islam: Neben der großen Zweiheit der sunnitischen Mehrheit (rund 85 Prozent aller Muslime) und der schiitischen Minderheit (rund 15 Prozent) existieren Dutzende unterschiedlicher Konfessionen, die sich zu verschiedenen historischen Epochen vom „Mainstream“ (von Sunna wie von Schia) abgespalten haben, und deren Zugehörigkeit zum Islam teilweise gar umstritten ist (etwa im Falle der Drusen oder der syrischen Alawiten). Daneben gibt es verschiedene Formen der spirituellen islamischen Mystik (Sufismus), den staatlichen oder „säkularen“ Islam bis hin zu politisch-ideologischen Ausrichtungen.

Scharia

Der Begriff Scharia wird im heutigen Sprachgebrauch für islamisches Recht verwendet. Im Islam gilt die Scharia als vollkommene Ordnung, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Das Gesetz achtet darauf, dass die religiösen Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber Gott erfüllt werden und alle Beziehungen des Einzelnen zu seinen Mitmenschen – Vermögensrecht, Familien- und Erbrecht, Strafrecht unter anderem – stets diesem Gesetz entsprechen. Um Glaubensfragen im engeren Sinne kümmert sie sich nicht.

Grundlage der Scharia sind seit Jahrhunderten – neben dem Koran - islamische Überlieferungen sowie die Auslegungen frühislamistischer Theologen und Juristen. Hinsichtlich ihrer Anwendung liegt die Scharia nicht in Form allgemein gültiger Rechtstexte vor und wird daher in den verschiedenen islamisch geprägten Staaten – als auch innerhalb der Staaten – unterschiedlich ausgelegt. Je nach Auslegung widerspricht sie vielen Punkten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Scharia reglementiert nicht nur das Verhalten in Familie und Gesellschaft, sondern auch die Gottesverehrung. Viele Muslime, die heute eine Besinnung auf das islamische Recht fordern, denken nicht an archaische Strafen wie Steinigungen, sondern verstehen die Scharia als moralischen Kompass. Auch moderate Auslegungen allerdings geraten oft in Konflikt mit Menschen- und Frauenrechten. Der Ruf nach Einführung der Scharia ist gegenwärtig in vielen muslimischen. Staaten zu einem politischen Kampfbegriff geworden.

Demokratie

Entgegen einer weit verbreiteten Meinung in westlichen Ländern haben demokratische Strömungen auch in der islamischen Welt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durchaus eine Tradition. Im Osmanischen Reich wurde durch Selim III. eine beratende Versammlung angestrebt. Durch die Allianzcharta von 1808 wurde die Macht des Sultans beschränkt, einer Notabelnvertretung wurden bestimmte Rechte übertragen. 1876 wurde erstmals ein – wenn auch begrenztes – parlamentarisches System der Mitbestimmung aller Bürger ohne Rücksicht auf ihre Religion geschaffen. Grundlage dieser Strömungen war immer die Ansicht, dass der Koran zwar Hinweise auf ein „rechtes“ Handeln und die Prinzipien einer „gerechten“ Ordnung enthält, er aber keine Verfassung ist und den Muslimen keine bestimmte Staatsform vor schreibt.

Geprägt wird die Vorstellung von der Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie allerdings von Entwicklungen in den Staaten wie Ägypten, Irak, Syrien oder dem Iran. In manchen islamischen Staaten entstanden zwischen den beiden Weltkriegen konstitutionelle oder parlamentarische Demokratien, die aber aufgrund von Korruption, Verwaltungswillkür und Nepotismus scheiterten. Im Arabischen Frühling lehnten sich die Menschen gegen diese Systeme auf, scheiterten letztlich aber beim Aufbau neuer, demokratischer Strukturen an der eigenen Unfähigkeit oder auch an der Beharrungsfähigkeit des Apparates.

Islamismus

Der Islamismus oder islamische Fundamentalismus ist die Beschreibung einer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts radikalisierten Ausprägung islamischer Traditionen. Sie erheben den Anspruch, mit ihrem religiösen „Rechtekanon“, der Scharia, verbindliche Normen für das private und Öffentliche, das Individuum und die Gesellschaft sowie die politische Herrschaftsverfassung zu setzen. Der islamische Fundamentalismus tendiert zu einer orthodoxen, also wörtlichen und nicht historisierenden Interpretation heiliger Texte. Antipluralismus, Antimodernismus, Intoleranz und ein rigider Moralismus vor allem in Fragen der Sexualmoral und der Geschlechterbeziehung kennzeichnen ihn. Diese Charakteristika hat der Islamismus im Übrigen mit anderen fundamentalistischen Religionsbewegungen im Christentum und Judentum gemeinsam.

Deutschland

In Deutschland bekennen sich im Moment rund vier Millionen Menschen zum Islam. Fast die Hälfte davon hat einen deutschen Pass. Die meisten Muslime sind Sunniten und haben einen türkischen Migrationshintergrund. Die türkischsprachige Gruppe der Aleviten grenzt sich zunehmend von ihnen ab und organisiert sich als eigene Religionsgemeinschaft. Andere Muslime sind vor allem Einwanderer aus Bosnien-Herzegowina, Albanien, dem Kosovo, dem Iran, Marokko, Afghanistan, Pakistan, Syrien und Tunesien. Keine andere Religionsgruppe in Deutschland weist sprachlich, kulturell und religiös eine mit den Muslimen vergleichbare Vielfalt auf. Wie in anderen Ländern Europas geht die Präsenz großer muslimischer Gruppen auf die Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren zurück, auch wenn eine kleine islamische Diaspora von Migranten, Flüchtlingen und Konvertiten bereits seit längerem bestand. Mit der Familienzusammenführung, die seit den 1970er Jahren in großem Stil erfolgte, bildeten sich große muslimische Gemeinschaften, deren Lebensschwerpunkt sich zunehmend nach Deutschland verlagerte, auch wenn sie die Nationalität des Heimatlandes und die sozialen Bindungen an die Heimat nach Kräften aufrechterhielten. Wie bei Migranten allgemein verstärkte sich das religiöse Leben in der Diaspora, und auch bei denjenigen, die ihre Religion nicht oder kaum praktizierten, blieb der Islam meist ein wichtiger Bestandteil ihrer sozialen und kulturellen Identität.