Von der AfD bis zu Trump und Putin: Die Vergangenheit wird umgeschrieben, um eigenes Machtstreben zu begründen. Das findet kein gutes Ende.
Die Haltung, mit der eine Gesellschaft ihrer Vergangenheit begegnet, sagt viel über deren demokratische Reife aus. In der Zeit zwischen der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 und dem Ersten Weltkrieg schnellten allerorten die Bismarck-Denkmäler in die Höhe, auch in Stuttgart grüßt ein Exemplar vom Norden her ins Tal hinab.
Unten auf dem Karlsplatz sitzt der Hohenzollernkaiser Wilhelm I. hoch zu Ross. Immerhin: Heute summt niemand, der das Denkmal passiert, „Heil dir im Siegerkranz“. Woraus sich erhellt: Es gibt historischen Fortschritt – allerdings auch Rückschritt, wie gleich zu zeigen sein wird.
Auf Wilhelm und seinen eisernen Kanzler folgten einige ephemere Gestalten, die blasiert in den Weltkrieg stolperten, sodass nach 1918 Heldenkrieger- und Kriegerwitwendenkmäler nötig wurden, welche niederlagenbedingt jung sterbende Heroen zeigten, die in den Schoß der Mutter sinken.
Die Steinmetze meißelten Lügen wie „Sie starben für Volk und Vaterland“ in Marmor oder Granit. Tatsächlich ließen die Soldaten ihr Leben, weil die Eliten des Kaiserreichs von Weltgeltung träumten. Die französische Nordseeküste bis nach Boulogne sollte vereinnahmt werden; Belgien sowieso. Gedenkredner verklärten den millionenfachen sinnlosen Tod, um ihre eigene Schuld zu camouflieren.
Braune Männchen aus dem All landen in München
Nach einem weiteren Weltkrieg entfiel zunächst jegliches Gedenken, denn die Deutschen hatten wundersamerweise ihr Gedächtnis verloren. Man schaute nach vorn, hinten gab es nichts zu sehen. Doch ließen sich die Verbrechen, zumal der millionenfache Mord an den Juden, auf Dauer nicht verdrängen. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 und der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 schaufelten das kollektiv Verdrängte zurück ins Gewissen. Eine nachwachsende Generation stellte Fragen. Ganz allmählich entwickelte sich das, was man heute Erinnerungskultur nennt. Das geschah nicht freiwillig.
Eine Nation, die in den Augen der Welt das schlimmste Menschheitsverbrechen der Geschichte verantwortet, konnte schlicht nicht so tun, als sei nichts gewesen. Doch auch Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, sprach noch davon, die NS-Verbrechen seien „im deutschen Namen“ begangen worden. Wer sich hinter dieser in offiziellen Bekundungen inflationär gebrauchten Formulierung verbarg, blieb vage. Die einen meinten, Hitler – von Geburt immerhin Österreicher – sei ganz allein schuld an allem gewesen, die anderen verwiesen auf unbekannte braune Männchen aus dem All, die 1933 in München gelandet und 1945 wieder verschwunden seien.
Unlängst zeigte das Schauspiel Stuttgart im Landtag das Oratorium „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, bei dem es sich im Wesentlichen um eine nüchterne Dokumentation des Frankfurter Auschwitz-Prozesses handelt. Obgleich die Fakten lange bekannt sind, verrieten die Mienen der Zuschauer nackte Bestürzung. Der Theaterkritiker der Stuttgarter Zeitung erinnerte bei dieser Begebenheit zu Recht an den AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland, der die NS-Diktatur als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte verharmlost. Wer vom Podium aus gesehen rechts im Plenarsaal saß, befand sich dort, wo noch vor wenigen Jahren der Abgeordnete Wolfgang Gedeon (AfD, dann fraktionslos) saß: ein Mann, der den so genannten Protokollen der Weisen von Zion Authentizität zubilligte – jener Hetzschrift, die das Urbild der Lüge von der jüdischen Weltverschwörung darstellt.
Würde die AfD regieren, stünde es schlecht um die Finanzierung einer auf Aufklärung setzenden Erinnerungsarbeit. In Sachsen-Anhalt, wo die AfD bei der nächsten Landtagswahl auf Großes hofft, soll nach einem Wahlsieg das bisherige Landesmotto #moderndenken in #deutschdenken umformuliert werden. Die Nationalromantiker von der AfD zeigen sich zuversichtlich, dass ein „Stolz-Pass“ (mit Rabatten für die Stätten nationaler Größe) das Land zum „Sehnsuchtsort aller deutschen Patrioten“ mache, befahrbar auf der „Straße des deutschen Reiches“. Klassenfahrten zu Gedenkstätten sollen hingegen entfallen. Und für das Bauhaus-Museum in Dessau kämen finstere Zeiten.
Nationalisten biegen sich die Geschichte gewohnheitsmäßig zurecht, das Geschichtsklittern wohnt dem Nationalismus inne. Die kleinen Nationalisten von der AfD ahmen nur nach, was ihnen große Nationalisten wie Donald Trump oder Wladimir Putin vormachen. Demnach gibt es die Ukraine gar nicht, und die Sklaverei in den Südstaaten der USA ist nicht mehr als ein Vogelschiss in der amerikanischen Geschichte. Alles, was negativ gedeutet werden kann, soll verschwinden. Was allein zählt, ist die einzigartige Größe der eigenen Nation.
Wer in Gottes Auftrag handelt, begeht keine Sünde
Im Fall Putins verwundert die Geschichtsschminke kaum. Als sowjetischer Ex-Geheimdienstler weiß er, wie sich die Vergangenheit propagandistisch instrumentalisieren lässt. Trefflich zeigt sich dies in seinem 2021 publizierten Aufsatz „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“.
Was wiederum die Amerikaner angeht, so sind ihnen schon im politischen Normalbetrieb Minderwertigkeitskomplexe fremd gewesen. Das mafiös-autoritäre Programm Trumps und seiner Hintermänner entfaltet sich vor der Kulisse eines göttlichen Auserwähltheitsglaubens. Wer aber im Auftrag Gottes handelt, begeht keine Sünden.
So hat Trump seinen Vize J.D. Vance beauftragt, Museen einem Geschichtsrevisionismus zu unterwerfen. Vor allem die berühmte Smithsonian Institution, die mehrere herausragende Museen betreibt, muss als Ziel des Säuberungswillens herhalten. In vielen Einrichtungen arbeiten willfährige Hände dem Regime zu. Die Meldung, dass in einem nicht genannten Nationalpark das Bild des „Scourged Back“ entfernt worden sei, fand weltweit Beachtung.
Es handelt sich um die Fotografie eines schwarzen Sklaven aus dem Jahr 1863, dessen Rücken die Spuren des Auspeitschens zeigt. Von den 15 US-Präsidenten, die bis zur Wahl des Republikaners Abraham Lincolns 1860 aufeinanderfolgten, waren elf Sklavenhalter. Das Denken in Schwarz-Weiß, das Abwerten des Gegners, das Aushöhlen demokratischer Institutionen – all das Gehört zum Programm des neuen Autoritarismus und Neoimperialismus.
2018, während Trumps erster Amtszeit, veröffentlichten die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt das Buch „How democracies die“ (deutsch: Wie Demokratien sterben). In der „New York Times“ zogen sie vor einigen Monaten eine erste Bilanz zu Trumps zweiter Präsidentschaft: „Bisher blieb die Reaktion der US-Gesellschaft auf diese autoritäre Offensive hinter den Erwartungen zurück – und zwar in alarmierender Weise.“ Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es in Deutschland nicht ebenso weit kommen könnte.