Dem Meer fühlte er sich immer eng verbunden: Slava Kurilov in den 90er Jahren im Lotussitz auf einem israelischen Forschungsschiff. Foto: Gendeleva-Kurilova

Slava Kurilov hat nur einen Wunsch: Er will Freiheit. Dafür ist der sowjetische Meeresbiologe bereit, alles zu riskieren. Im Jahr 1974 springt er kurzerhand von einem Schiff in den stürmischen Pazifik. Es ist der Beginn einer unglaublichen Überlebensgeschichte.

Stuttgart - Es ist eine finstere Gewitternacht, in der Slava Kurilov sein altes Leben mit einem beherzten Sprung verlässt. 14 Meter tief fällt er ins schwarze Nichts, bis er auf der Oberfläche des aufgewühlten Pazifiks aufschlägt. Sofort beginnt er, mit kräftigen Stößen zu schwimmen – er muss dem Sog der zwei gewaltigen Schiffsschrauben entkommen. Schließlich holt er Schwimmflossen, Taucherbrille und Schnorchel aus dem Rucksack, den er sich vor dem Sprung umgeschnallt hat. Dann beginnt Slava Kurilov zu schwimmen.

Hinter dem Sprung des 38-jährigen Meeresforschers liegt die Geschichte eines Menschen mit unbedingtem Freiheitswillen. „Slava hätte in der Sowjetunion nicht weiterleben können“, sagt seine Witwe Elena Gendeleva-Kurilova. Die 64-jährige Israelin hat jetzt die Memoiren ihres verstorbenen Mannes ins Englische übersetzen lassen und veröffentlicht. Wahrscheinlich ist es ein guter Augenblick für seine Geschichte – in einer Zeit, in der sich viele Debatten um Abschottung, Mauern und Einreisverbote drehen.

Das Meer übt eine magische Anziehungskraft auf ihn aus

Wenige Orte dürften weiter vom Ozean entfernt sein als die kasachische Stadt Semei, in der Slava Kurilov aufwächst. Seiner Begeisterung tut das keinen Abbruch, im Gegenteil: Das Meer übt eine magische Anziehungskraft auf den schmächtigen Jungen aus. Er verschlingt alle Abenteuerbücher, die er an der stramm kommunistisch eingestellten Bibliothekarin seines Heimatorts vorbeischmuggeln kann. „Es ist vermutlich besser, nichts über die Welt zu wissen, als vieles zu wissen, ohne die Aussicht, es jemals sehen zu dürfen“, schreibt er.

Sein Traum, Schiffskapitän zu werden, wird von einer leichten Kurzsichtigkeit durchkreuzt. Nach der Schule schreibt er sich deshalb für ein Studium der Meereskunde ein. Immer wieder plant seine Forschungsgruppe Reisen ins Ausland, doch alle werden ohne Begründung abgelehnt. Die Sowjetunion der siebziger Jahre ist geprägt von zunehmender Repression – und einer „absoluten Kontrolle von allem und jedem“, wie der spätere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow schreibt.

Mit intensivem Yoga bereitet er sich vor

Nach seinem letzten Visumsantrag findet Kurilov einen Vermerk an seine Akte geheftet: ‚Kamerad Kurilov, von Reisen in kapitalistische Länder wird abgeraten.‘ Nach dieser Absage fällt er in ein tiefes Loch. „Es war wie ein Todesurteil. Ich fühlte mich wie ein Gefangener in diesem Land. Ich lebte auf einem wunderbaren blauen Planeten – aber ich war eingesperrt in einem kommunistischen Staat, mit Verweis auf irgendwelche dummen politischen Ideen.“ Dieser Moment tiefster Verzweiflung wird gleichsam zum Wendepunkt in Kurilovs Leben. Er begreift, dass ihm nur die Flucht aus seinem Heimatland bleibt. „Nachdem mir das klar geworden war, hatte ich keine Angst mehr.“

Kurze Zeit später stößt er auf die Anzeige für eine Schiffsreise von Wladiwostok bis zum Äquator. Ein Visum ist nicht nötig – das Schiff wird an keinem Hafen anlegen, zu groß ist die Angst der Veranstalter, dass Passagiere flüchten könnten. Die „Sowjetunion“ ist zur damaligen Zeit das größte Passagierschiff des Landes. Am achten Dezember 1974 legt sie in Wladiwostok ab – mit einem entschlossenen Slava Kurilov an Bord. „Mir war klar, dass ich von dieser Reise nicht zurückkehren würde. Alles würde sich ändern, wenn ich erst die Tropen gesehen hätte.“ Zu diesem Zeitpunkt kennt er nicht einmal die genaue Route des Schiffs, die Veranstalter halten sie geheim. Körperlich ist der 38-Jährige gut vorbereitet: Er ist ein exzellenter Schimmer und praktiziert – obwohl in der damaligen Sowjetunion verboten – seit Jahren intensiv Yoga.

Ein Unwetter zieht auf – er lässt sich treiben

Nach einigen Tagen an Bord gelingt Kurilov ein heimlicher Blick auf die Navigationskarte. Er kalkuliert den Punkt, an dem das Schiff sich in kürzester Distanz zu Land befinden müsste: es ist die philippinische Insel Siargao. Die Nacht vom 13. Dezember 1974 ist finster. Ein Gewitter braut sich über dem Ozean zusammen. Doch Slava Kurilov weiß, er hat nur diese eine Chance. Er springt. Bald türmt das Unwetter das Meer zu meterhohen Wellen auf. Schwarze Wolken verdecken die Sterne, die ihm den Weg weisen sollten. Nach einigen Stunden verliert er jede Orientierung. Er beschließt, sich bis zum Morgengrauen treiben zu lassen und seine Kräfte zu schonen.

Als die Sonne aufgeht, stellt er fest, dass nirgends Land zu sehen ist. Hat er mit seiner Kalkulation falsch gelegen? Quälende Unsicherheit überkommt ihn. Es ist bereits Mittag, als er eine seltsame Wolkenformation am westlichen Horizont entdeckt. „Ich wusste, dass Wolken immer über Bergen verharren – und Siargao ist bergig.“ Er schwimmt den ganzen restlichen Tag, er schwimmt die zweite Nacht hindurch. Der Himmel ist sternenklar, dadurch kann er sich leicht orientieren.

Eine fatale Entscheidung

Als die Sonne am nächsten Morgen aus dem Meer steigt, liegt die Insel Siargao wie ein großer Felsbrocken vor Slava Kurilov im Wasser. Um die Mittagszeit nimmt die Landmasse bereits den gesamten westlichen Horizont ein. Er jubiliert – und macht eine fatale Beobachtung. „Der südliche Zipfel der Insel erschien mir etwas dunkler. Ich vermutete, dass dieser Teil der Insel näher sein musste und so änderte ich meinen Kurs Richtung Südwesten.“ Dieser Entschluss sollte sich als schwerer Fehler herausstellen. Denn am Südzipfel der Insel verläuft eine starke Strömung. Einige Stunden nachdem Kurilov den Kurs geändert hat, stellt er voller Entsetzen fest, dass sie ihn langsam an der Insel vorbei und von ihr fort trägt. „Ich schwamm mit aller Kraft Richtung Land, aber es war zwecklos.“

„Ich beschloss zu sterben“

Der Himmel beginnt sich über ihm zu verdunkeln, Slava Kurilovs dritte Nacht im Ozean bricht an. Nach zwei Nächten und zwei Tagen im Meer werden seine Glieder schwer. Er kämpft an gegen die Panik, die in ihm aufsteigt und gegen seinen Körper, der ihm langsam den Dienst versagt. Schließlich gehorchen ihm die Beine nicht mehr. „Ich hing wie leblos im Wasser. Bald verlor ich immer wieder das Bewusstsein. (…) Ich beschloss zu sterben. In Gedanken verabschiedete ich mich von meiner Frau, meiner Mutter, meinen Freunden.“

Was Slava Kurilov zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Die Strömung, die ihn von Siargao fortgezogen hat, beschreibt einen Bogen entlang der Südspitze der Insel – und trägt ihn langsam wieder zurück in Küstennähe. Mitten in der Dunkelheit vernimmt er ein regelmäßiges dumpfes Grollen: Es sind die Wellen, die sich vor dem Strand brechen. Er mobilisiert seine letzten Kräfte, doch immer wieder verliert er das Bewusstsein. Er beginnt zu halluzinieren, hört Stimmen, die sich über seinen Kopf hinweg unterhalten. Er sieht sich plötzlich als Gast in einem hellen, lichtdurchfluteten Haus. Ein Gefühl tiefen Friedens überkommt ihn. Doch dann sind da wieder der Ozean, seine schmerzenden Glieder – und das ferne Donnern der sich brechenden Wellen. Er kämpft.

Die Faszination mit dem Meer lässt ihn nie los

In Küstennähe türmen sich die Wellen plötzlich zu gewaltiger Größe auf. Trotz seiner völligen Erschöpfung bleibt der Meeresbiologe Kurilov fasziniert vom Wasser – diesem Element, das ihn seit seiner Kindheit in den Bann gezogen hat. „Ich sah eine riesige Welle vor mir. Nie in meinem Leben hatte ich eine Welle von solcher Größe gesehen – sie schien den Himmel zu berühren. Sie leuchtete von innen heraus in einem seltsamen bläulichen Licht. (…) Sie war von fantastischer Schönheit.“ Welle um Welle brechen sich über dem völlig Entkräfteten. Da spürt er mit einem Mal Boden unter seinen Füßen. Er erreicht den Strand von Siargao und bricht zusammen.

Slava Kurilov wird von Einheimischen aufgefunden und versorgt. Als flüchtiger Sowjetbürger ist er den Behörden suspekt und wird inhaftiert. Nach einigen Monaten darf er ausreisen und findet seinen neuen Lebensmittelpunkt in Israel, wo er sich in seine zweite Ehefrau Elena Gendeleva-Kurilova verliebt. In der Sowjetunion wird er in Abwesenheit wegen Hochverrats zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er bekommt einen Job im Meeresinstitut in der israelischen Hafenstadt Haifa. Unter der warmen Sonne des Nahen Ostens und in Sichtweite zum geliebten Ozean kommt der chronisch Fernwehkranke endlich zur Ruhe. Er schreibt seine Memoiren und praktiziert weiter täglich seine Yoga-Übungen.

Ganz nah am Auge Gottes

Der 29. Januar 1998 ist ein kalter Tag. Kurilov geht mit einem Kollegen im See Genezareth tauchen. Am Grund des Sees verfängt sich sein Begleiter in einem Fischernetz. Kurilov befreit ihn – und verfängt sich selbst. Als beide sich schließlich losgemacht hatten, signalisiert Kurilov, dass er sich unwohl fühlt und beginnt aufzusteigen. Er ist tot, noch bevor sie den Strand erreicht haben.

„Slava hatte keine Angst vor dem Tod“, sagt seine Witwe Elena Gendeleva-Kurilova heute rückblickend. Das Gefühl des Friedens, das ihn im Angesicht des Todes auf dem Ozean überkommen hatte, habe ihn auch später sein Leben lang begleitet. „Wenn man seine Memoiren liest, begreift man, dass er diese andere Welt schon gesehen hatte“, sagt Gendeleva-Kurilova. Einmal habe er ihr von der Legende erzählt, wonach das Auge Gottes über dem See Genezareth schwebt. Sie sieht es nicht als Zufall an, dass ihr Mann, der den Pazifischen Ozean bezwang, auf einem Routine-Tauchgang in einem ruhigen See sterben musste. Als man ihn tot aus dem Wasser geborgen hatte, habe ein eigenartiges Lächeln auf seinem Gesicht gelegen, sagt sie. „Ich kann es nicht beschreiben, aber es lag etwas Wissendes darin.“