Lothar (l.), 83 Jahre und Elmar Braun, 88 Jahre, berichten von ihrem Vater Josef, der damals den älteren der beiden Brüder (r.) mit auf den Killesberg nahm, um ihm das Unrecht zu zeigen. Foto: Georg Friedel

Ein Zeitzeuge aus Zuffenhausen berichtet, wie er als Elfjähriger die Deportation der Juden auf dem Killesberg erlebte. Die Bilder von eingekesselten Erwachsenen und den Kindern, die an ihren Müttern hingen und weinten, kann er nicht mehr vergessen.

Stuttgarter Norden - Die Bilder vom 1. Dezember 1941 auf dem Killesberg gehen Elmar Braun nicht mehr aus dem Kopf. Wie dort oben Kinder an ihren Müttern hingen und wie sie „gewimmert und geheult haben“, hat sich im Gedächtnis des 88-Jährigen aus Zuffenhausen eingegraben: „Das vergisst man nie“, sagt er. Das Datum steht sinnbildlich für ein dunkles Kapitel der Stuttgarter Stadtgeschichte. An diesem Tag brachte man die jüdischen Mitbürger vom Killesberg zum Nordbahnhof. Etwa 1000 Menschen wurden in Eisenbahnwaggons getrieben und nach Riga gebracht. Es war eine Reise in den sicheren Tod und der Beginn der Deportationen in Stuttgart. Nur sehr wenige überlebten den Holocaust.

Vater und Sohn machen sich zu Fuß auf zum Killesberg

Elmar Braun ist damals elf Jahre alt. Mit seinen drei Geschwistern und den Eltern Marie und Josef Braun wohnt er in Zuffenhausen in der Hohenloher Straße 49. An diesem 1. Dezember kommt sein Vater, der Lehrer in Zuffenhausen ist, nach dem Schulunterricht zu seiner Familie nach Hause und sagt zu seinem ältesten Sohn: „Komm Elmar, ich zeige dir Winterblüher auf dem Killesberg.“ Botanik und Pflanzenkunde ist nicht nur sein Unterrichtsfach neben Chemie und Latein, sondern auch sein Steckenpferd. Sie brechen beide zu Fuß von der Hohenloher Straße auf zum Höhenpark.

Doch dort spielen die Winterblüher zunächst keine Rolle. Vater und Sohn werden Zeuge der Juden-Deportation auf dem Killesberg: „Plötzlich standen da etwa 80 Personen, die von Polizisten und Wachpersonal umzingelt waren. Die Polizisten hatten Kettenhunde dabei“, erinnert sich Elmar Braun. Die zusammengetriebenen Männer, Frauen und Kinder wirkten sehr verängstigt. Der elfjährige Bub spürt instinktiv, dass Unrecht geschieht, deshalb will er wissen: „Was ist da los, was machen die da?“, löchert er seinen Vater. Dieser nimmt ihn erst einmal weg von dem traumatischen Geschehen: „Als wir außer Hörweite waren, hat mein Vater zu mir gesagt: Du darfst heute nicht mehr fragen, was dort los ist.“ Später schauen sie sich noch schweigend die Winterblüher auf dem Reichsgartenschaugelände an und gehen danach heim.

Vorsicht war geboten

War der Ausflug nur ein Ablenkungsmanöver? Wollte der Vater dem Sohn gar nicht so sehr Winterblüher zeigen, sondern ihm das Unrechtsregime der Nationalsozialisten auf diese drastische Art und Weise vor Augen führen? 77 Jahre nach der Deportation auf dem Killesberg sitzen Elmar und sein fünf Jahre jüngerer Bruder Lothar zusammen am Wohnzimmertisch an der Hohenloher Straße 49 und sind sich ziemlich sicher: „Das Ganze lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Unser Vater wusste – woher auch immer – von der Aktion auf dem Killesberg“, sagt Lothar Braun. Und Vorsicht war geboten. Bereits Anfang 1933 hatte der Vater zu spüren bekommen, was es bedeutet, sich mit den neuen Machthabern anzulegen, berichtet der jüngere Sohn. Damals war Josef Braun noch Schulleiter in Neuenbürg bei Pforzheim. Im Zuge der Reichtagswahlen im März 1933 lässt er sich über die führende Köpfe der NSDAP aus: „Da ist ein Verbrechergesicht wie das andere“, sagt er irgendwann. Und über Friedrich den Großen, den die Nationalsozialisten fast kultisch „als größten Feldherr aller Zeiten“ verehren, legt Josef Braun noch nach: Dessen Geschichte sei „auf Lug und Trug aufgebaut“, wettert er offenbar vor Zeugen.

Verhör im örtlichen Rathaus

Solche Aussagen bleiben den örtlichen Nazis nicht verborgen. Jemand denunziert ihn. Am „27. März, 3.50 Uhr nachmittags“, so protokolliert Josef Braun später selbst, seien im Schulhaus „der Landjäger Apold und der SA-Mann Schmidt, letzterer mit Karabiner bewaffnet“, erschienen. Der Schulleiter gibt seiner Klasse schnell noch eine Aufgabe, wird zum Verhör abgeführt und im Rathaus vernommen. Er kommt anderthalb Tage in Schutzhaft, danach wieder frei. Doch seine Tage an der Schule in Neuenbürg sind gezählt. Als Studienrat muss er sich wegbewerben, so kommt er an die Hohensteinschule in Zuffenhausen, die damals Horst-Wessel-Oberschule hieß.

Die Mauser, Kaliber 6,35, lag immer im Schreibtisch

Im Schreibtisch von Josef Braun lag „von 1933 an in der mittleren Schublade immer eine geladene Pistole, Marke Mauser, Kaliber 6,35 Millimeter“, berichten die Söhne. Hätten ihn die Nazis nochmals geholt, hätte er wohl davon Gebrauch gemacht und „sich und seine Familie erschossen“, meint Elmar Braun heute: „Da wissen Sie, was in den Leuten damals vorging.“ Nicht alle Deutschen seien eben Mitläufer gewesen und hätten feige „weggeschaut“, wie er erst kürzlich in einem Artikel über die Judendeportation gelesen habe, sagt Elmar Braun und ist etwas verärgert über diese historische Simplifizierung. In der neuen Ausstellung im Hotel Silber könne heute ja jeder sehen, was mit Gegnern des Regimes geschah.

Sein Vater beschreibt im April 1933 in einem Brief an die Schul-Ministerialbehörde wegen seiner „Inhaftnahme“ den Drahtseilakt des Überlebens in einer Diktatur sehr präzise: „In der heutigen erregten Zeit möchte ich zwar alles vermeiden, was zu einer Verschärfung der Gegensätze führt. Trotzdem muss ich aussprechen, dass ich hier einige persönliche Feinde habe, die jetzt den Zeitpunkt gekommen glauben, kleinliche persönliche Rache zu nehmen.“