Eric Gauthier an der Gitarre – zum Treffpunkt Foyer hatte er Liebeslieder mitgebracht Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Der Choreograf Eric Gauthier hat beim Treffpunkt Foyer unserer Zeitung einen sehr ehrlichen Einblick in seine Arbeit gegeben. So verlief der Abend mit unseren Leserinnen und Lesern.

Da sitzen sie auf dem Boden. Schweißtropfen rinnen die Nase entlang, tropfen auf den Oberkörper. Die Ballettschuhe haben sie ausgezogen. Verschnaufen nach dem Aufwärmen. Durchatmen in der Abendsonne, die langsam am Stuttgarter Pragsattel verschwindet: Auf dem Boden sitzend. Chips, Popcorn, Cola, Apfelschorle: Das Zeug passt so gar nicht zu den Muskeln, die sich zwischen Bustier und abgeschnittenem T-Shirt oben und der Hosen unten bei den Frauen und Männern abzeichnen. Gauthier Dance nennen sie sich. Ihr Nachwuchs hat Juniors an den Namen angehängt – zwei Truppen im Sonnenschein. Mancher Blick der ersten Gäste, die zum Treffpunkt Foyer unserer Zeitung ins Stuttgarter Theaterhaus schlendern, scheint neidvoll zu sagen: Auf diesen Hüften bleibt aber auch gar nichts hängen.

175 Zentimeter geballter Energie

Wie auch nicht auf denen ihres Chefs: Eric Gauthier, 44, braune Augen, akkurater Haarschnitt, Dreitagebart, grau-grüner Blouson, schwarzes T-Shirt, grau-grüne Hose, Sneaker. „Servus! Hallo, isch bin der Eric“, sagt er mit warmer Schmeichelstimme und französischem Akzent. Und spätestens jetzt haben die 175 Zentimeter geballte Energie die Menschen im Sack.

Kaum einer kann sich Gauthiers Witz, seinem Charisma entziehen. Er holt Kulturbanausen in seine Welt – eigentlich. Eine, in der das „Spielbein“ das ist, das keine Bodenhaftung hat, in der Luft herumwirbelt. Eine, in der „bras arrondis devant“ heißt, die Arme so nach vorne auszustrecken, als wollten sie einen dicken Bauch umfassen.

Keine Frage, Gauthier weiß das alles. Aber er pfeift auf diesen Sprech. Er nummeriert einfach die Positionen, die er als Choreograf seinen Künstlern vorgibt. 1 bis irgendwas, fertig. Kein Schnickschnack, kein Getue, kein Schein, einfach nur Spaß. Nicht nur klassisches Ballett, auch moderner Tanz, Artistik, Pantomime. Statt Tütü und Trikot tragen bei Gauthier die Frauen Schottenröckchen über zerrissenen Strumpfhosen, die Männer Hosen mit Karomuster. Die Zuschauer holen sie in die Rechteckarena, animieren sie, sie zu imitieren. Statt Schwanensee ein wenig „Kamuyot“, dem hebräischen Wort für „Menge, Vielfaches“: „Meine Mission ist es, die Menschen für den Tanz zu begeistern und emotional zu berühren“, sagt Gauthier.

Von Russland nach Stuttgart

Irgendwann Anfang 30 gebe es im Kopf jedes Balletttänzers einen Klick, sagt Gauthier, was kommt jetzt: „Mit 29 hatte ich genug vom weißen Trikot des Balletts.“ Nach seiner bejubelten Aufführung im Moskauer Bolschoi-Theater, wurde ihm klar: „Ich habe mich in Russland von den Menschen verabschiedet, aber nicht von meinen Publikum in Stuttgart.“ Es gab aber kein Adieu, er blieb.

Er wurde zum sprudelnden Ideenquell: Choreograf, Gitarrist, Sänger, Denker, Tänzer, Tausendsassa, Vater von drei Kindern: „Das ist mein tollster Job.“ Im Theaterhaus greift er zur Gitarre, singt seine Ballade, die er schrieb, als seine Frau und er sich trennten. Etliche Zuschauer schlucken.

Vor allem Frauen sind in die Halle gekommen, in der vier Tribünen um ein offenes Rechteck aufgebaut sind. Im Zentrum und mitten drin: Moderator Nikolai Forstbauer, Eric Gauthier, seine 20 jungen Tänzerinnen und Tänzer. Die Gruppe kam 2007 aus dem Nichts. Heute verdrehen, verbiegen, schwingen die Frauen und Männer ihre Körper, wirbeln Arme und Beine überall rund um die Erde: Den Haag, Dubai, Moskau, New York, Tel Aviv, Ottawa, der Vatikan, Venedig. Die Gruppe soll mit das beste sein, was zeitgenössischer Tanz in Europa derzeit zu bieten hat, schreiben die, die sich professionell mit Kultur beschäftigen.

Angebot an Schulen

Ab Oktober will er mit seinen beiden Gruppen, die im Ballettdeutsch Kompanien heißen, an Stuttgarter Schulen gehen: „Ein paar Bierbänke in die Sporthalle, zusammen tanzen. Zusammen Spaß haben – jemand muss es doch machen“, sagt Gauthier – und zeigt, wie einfach es sein kann, Kultur jedermann und -frau nahe zu bringen: „Die Kultur muss Angebote für alle Menschen machen.“ Gauthier macht das, wenn er mit einem Lastwagen zur Pause vor Schulen auftaucht. Mit den Schülerinnen und Schülern die Pause durchtanzt. Und nach dem Pausengong wieder wegfährt. Kultur, so hat Gauthier in den vergangenen 14 Jahren festgestellt, ist chronisch unterfinanziert: „Ich bin es leid, betteln zu gehen für alle diese Projekte. Keine Mittagessen, keine Abendessen mehr, um Geld zusammen zu bekommen. Hey, wir kümmern uns um die Zukunft. Bieten sie an. Da muss doch was gehen.“

Gauthier ist in Stuttgart verwurzelt, hier engagiert er sich: Er sammelt Spenden für das Stuttgarter Hospiz, bringt gehandicapte Menschen ebenso zum Tanzen wie kürzlich Menschen auf dem Katholikentag. Krankenhäuser, Altenheime, Sportplätze: Gauthier, seine Tänzerinnen und Tänzer suchen sich ehrenamtlich selbst ungewöhnliche Bühnen, um zu berühren und zu helfen. Deshalb hat ihm Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) 2015 den Verdienstorden Baden-Württembergs ans Revers gehängt.

Die Sonnenseite des modernen Tanzes

Am 13. März 1977 kam Gauthier in Montreal zur Welt. Eishockey-Spieler wollte er erst werden, das Tor sauber halten. Bis er das Musical Cats sah und sich in den Tanz verliebte. Mit neun also Ballettschüler, erst in Montreal, dann in Toronto. 1996 kam er nach Stuttgart an die Staatsoper, eine der ersten deutschen Adressen des Bühnentanzes. Gauthier wurde erst Solist, blieb zwölf Jahre in der Landeshauptstadt, ehe er sein „eigenes Ding“ machte. Nicht, ohne zu provozieren: „Ich wollte die Sonnenseite des modernen Tanzes zeigen.“

„The Renegades“, die Abtrünnigen, sollte seine Tanztruppe eigentlich heißen. Abtrünnig wird er schon wieder, wenn er im Herbst in Stuttgart aus dem Schwanensee die „Schwanense(h)en“ macht. Und es wird werden, wie am Dienstagabend: Gauthier und seine Kompanie werden die Abendsonne genießen, Chips essen, Cola trinken, Menschen begeistern und berühren – und sich zum Abschied dankend verneigen.