Michael Kunze lebt heute in Hamburg, in den 50ern war er als Kind mit seinen Eltern nach Stuttgart gezogen. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Das Stuttgarter Publikum ist berühmt für seine Begeisterungsfähigkeit und hätte Neues im Spielplan verdient, sagt Musicalautor Michael Kunze im Interview. Stattdessen kommt „We Will Rock You“ wieder. Versäumnisse sieht er auch bei subventionierten Bühnen.

Für Udo Jürgens hat er „Griechischer Wein“ und „Ich war noch niemals in New York“ getextet, für Jürgen Drews „Ein Bett im Kornfeld“ und für die Münchner Freiheit „Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht ein“. Der 1943 geborene Michael Kunze war der erfolgreichste Liedtexter in Deutschland, bevor er in den 1990er vom Schlager zum Musical wechselte, seiner großen Liebe.

 

Herr Kunze, Ihr Musical „Elisabeth“, das Sie mit Sylvester Levay geschrieben haben, ist seit der Uraufführung 1992 in Wien zum weltweit erfolgreichsten deutschsprachigen Musical geworden. Jetzt feiert die Show ihr Comeback in Berlin. Was muss ein Musical haben, um so erfolgreich zu sein?

„Elisabeth“ ist in diesem Jahr auf einer Tournee durch Deutschland in einer außergewöhnlichen Inszenierung von Gil Mehmert, die davor – ebenfalls in deutscher Sprache – große Erfolge in Wien, Shanghai und Peking feierte. Dass dieses Musical seit 33 Jahren Menschen in aller Welt begeistert, erlebe ich als etwas Außergewöhnliches. Einen solchen Erfolg kann man nicht planen. Ich denke, dass alle meine Musicals handwerklich gut gemacht sind. Sie bieten eine erzählenswerte Geschichte, eine fesselnde Dramaturgie und emotionale Musik. Sie alle lassen den Theaterbesuch zu einem emotionalen Erlebnis werden.

Bestimmt kommt auch ihr „Tanz der Vampire“ zurück. Es gibt in der Musicalbranche Stoffe, die wie Vampire ewig leben. In dem Stück geht es um das Erwachsenwerden. Wann sind Sie erwachsen geworden?

Ich bin mir nicht sicher, je ganz erwachsen geworden zu sein. Vielleicht geht es deshalb in allen meinen Musicals um das Ziel, selbstbestimmt, frei, unabhängig zu werden. Es ist ein Ideal, das wir selten ganz und nie auf Dauer erreichen.

Mit Schlagern haben Sie alles erreicht, was man in diesem Genre erreichen kann. Schlager schreiben Sie keine mehr – wie sieht es mit Musicals aus?

Ich konzentriere mich momentan ganz auf die Veröffentlichung eines mir sehr wichtigen Buches, das im kommenden Herbst erscheint. Daran habe ich 30 Jahre lang gearbeitet. Es trägt den Titel „Das unsichtbare Recht“ und beschreibt das Leben von Rudolf Jhering, einem Rechtsphilosophen des 19. Jahrhunderts. Ihm ging es um die Frage, woher diese sichere Überzeugung kommt, dass etwas Recht oder Unrecht ist. Das wissen wir ohne Gesetzeskenntnis. Früher sagte man, diese Gewissheit hat uns Gott mitgegeben. Jhering fand eine neue Erklärung. Das Recht hat mich immer schon fasziniert, nicht in Form der staatlichen Gesetze, sondern als Kulturphänomen.

Bei der Arbeit für das Buch blieb keine Zeit für ein Musical?

Die Schlussredaktion für das Buch hat mich nicht völlig abgezogen von meiner Arbeit fürs Theater. In den letzten Jahren ist mein neuestes Musical „Beethoven’s Secret“ in Südkorea und Tokio ein großer Erfolg geworden. Es erzählt die wahre Geschichte von Beethovens verbotener Liebe zu einer verheirateten Frau. Revolutionär ist dieses Musical, weil es fast ausschließlich Originalmusik von Beethoven verwendet. Seine Melodien werden von modernen Musicalstimmen interpretiert, wodurch die Beethovenmusik verführerisch heutig klingt. Ich wünsche mir sehr, dieses völlig neue und andere Werk auf einer europäischen Bühne gespielt wird. Leider schrecken konventionelle Produzenten vor Projekten zurück, die nicht ins Klischee passen.

Komponist Sylvester Levay (links) und Michael Kunze (rechts) haben unter anderem „Rebecca“ geschrieben. In der Mitte Hauptdarstellerin Pia Douwes. Foto: Stage Entertainment/ Jan Potente

In Deutschland bestimmen nicht die subventionierten Bühnen den Musicalmarkt , sondern private Unternehmer. Kann das Publikum froh darüber sein? Oder liegt ein Versäumnis der Theaterintendanten vor?

Das Versäumnis liegt über 40 Jahre zurück. In den 80er Jahren wollte eine wachsende Zahl der Deutschen Musicals sehen, wie sie in London, New York und Wien gezeigt wurden. Die große Mehrheit der Stadt- und Staatstheater ignorierte dieses Interesse. Aufgeführt wurden allenfalls operettenartige Standards wie „My Fair Lady“ oder eben alte Operetten. Musiktheater ist die teuerste Form von Theater, und eigentlich hätten sich die subventionierten Bühnen der Aufgabe widmen müssen, das angloamerikanische Musical zu importieren und neue, interessante, originäre europäische Musicals zu entwickeln. Das geschah damals nur in Wien. Die Nachfrage nach Musicals war in Deutschland aber ebenfalls derart stark, dass es einige private Unternehmer trotz der hohen Kosten wagten, die Lücke auszufüllen.

Viele sind gescheitert.

Letztlich blieben nur zwei große Anbieter, beide in der Hand internationaler Konzerne. Das Vorbild der Vereinigten Bühnen Wien (VBW) – einem städtischen Unternehmen – fand in Deutschland keine Nachahmung. Dieses Modell ist den rein kommerziellen Produktionsfirmen überlegen, denn es erlaubt, das Risiko von Originalproduktionen einzugehen. Ein Misserfolg ist keine Katastrophe. In meinem Fall waren die in Wien produzierten Originalmusicals durchschlagende Erfolge, die bis heute in zahlreichen Ländern aufgeführt werden; die dadurch erzielten Lizenzen gehen zum größeren Teil an die VBW, die mit den erheblichen Einnahmen neue Projekte finanzieren.

Hinter der Stage Entertainment steht ein internationales Unternehmen aus den USA, der Konzern Advance Publications inc. Wie wirkt sich das auf die Auswahl der Shows aus?

Private Investoren scheuen das Risiko. Sie wollen sichergehen. Daher macht es Sinn für sie, bereits etablierte Erfolge aus London oder New York nach Deutschland zu transferieren. Ferner wollen, ja müssen sie Kosten reduzieren, weshalb Musicals, die ein Publikum ziehen, möglichst lange in gleichbleibenden Kulissen und der exakt selben Inszenierung an verschiedenen Orten angeboten werden. Für kommerzielle Unternehmen ist jedes Musical eine Ware.

Michael Kunze (Zweiter von links) mit Darstellern von „Tanz der Vampire“. Oben: Kevin Tarte. /Kraufmann/Thomas Wagner

Kann man dies Geschäftsleuten, die Geld machen wollen, vorwerfen?

Nein, kann man nicht, auch wenn sie dabei übersehen, dass die wirklich durchschlagenden Hits immer vom Üblichen abweichen. Ihre Produktionen sind fast immer perfekt, doch nur selten berührend. Denn Theater, auch das unterhaltende Musiktheater namens Musical, ist keine Ware, sondern eine Kunstform. Im besten Fall drückt sich darin der Zeitgeist aus, und in manchen Schöpfungen sogar der Sinn des Lebens.

In Stuttgart bedauern viele Musicalfans, dass die Stage seit Jahren keine neuen Shows mehr aufführt, sondern nur das, was in Hamburg erfolgreich war. Stuttgart ist zu einer Abspielstätte der Hits geworden. Wird das immer so bleiben?

Ich hoffe nicht. Dass Privatproduzenten auf den Profit achten müssen, zwingt nicht unbedingt zu einer solchen Politik. Man könnte auch internationale Hits in Stuttgart erstaufführen, und erst danach in Hamburg. Das Stuttgarter Publikum ist berühmt für seine Offenheit und Begeisterungsfähigkeit; selbst die Uraufführung eines Originalmusicals in dieser Stadt bedürfte keiner außergewöhnlichen Risikobereitschaft, wenn das Thema stimmt und bekannte Autoren dahinterstecken.

Im Herbst will die Stage „We Will Rock You“ nach Stuttgart bringen – wieder ein Stück, das schon hier war. Sind Experimente für ein Musicalunternehmen zu gefährlich?

Experimente darf man von kommerziellen Unternehmen nicht verlangen, wohl aber von subventionierten Bühnen. Es ist ein Unding, dass die Förderung des Musiktheaters fast gänzlich der Oper zugutekommt. Die Steuern, die in die Theatersubventionierung fließen, kommen von allen Bürgern. Das Unterhaltungsinteresse und Kunstbedürfnis der Musicalfans verdient denselben Respekt wie die Vorlieben der Opernfans. Ich denke, es wäre an der Zeit, in Stuttgart so etwas wie die Vereinigten Bühnen Wien zu etablieren.