Recep Tayyip Erdogan gibt nicht Ruhe, bis alle oppositionellen Stimmen verstummt sind. Foto: AP

Der türkische Staatschef Erdogan bringt alle seine Kritiker zum Schweigen. Wenn er noch die Todesstrafe wieder einführen lässt, wäre eine rote Linie überschritten. Dann sollte die EU die Beitrittsverhandlungen stornieren und Sanktionen verhängen, meint unser Korrespondent Gerd Höhler.

Ankara - Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan ist um große Worte nie verlegen. Er sieht die Türkei als „Quelle der Inspiration für die Welt“, wegen ihrer „starken Demokratie“ und ihrer „Verbundenheit zu menschlichen Grundwerten“, wie er anlässlich des Nationalfeiertags sagte. Aber wie steht es um Demokratie und Grundrechte in dem Land? Die Antwort gibt Erdogan selbst mit den willkürlichen „Säuberungen“ seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli. Er bezeichnete den Umsturzversuch als „Geschenk Gottes“, weil er den Anlass liefere, die Streitkräfte zu „reinigen“ – und nicht nur die.

Mit den Verhaftungen leitender Redakteure der oppositionsnahen Traditionszeitung „Cumhuriyet“ erreichte die Hexenjagd einen neuen Höhepunkt. Fast 170 Zeitungen, Zeitschriften, Verlage und Sender hat Erdogan seit dem Putschversuch schließen lassen. „Cumhuriyet“ ist eine der letzten Stimmen der freien Meinungsäußerung in einer nun weitgehend gleichgeschalteten Medienlandschaft. Jetzt soll auch sie zum Schweigen gebracht werden.

Den Rechtsstaat kontinuierlich demontiert

Seit den Jahren der Generalsdiktatur 1980 bis 1983 stand die Türkei international nicht mehr so in der Kritik wie jetzt. Mehr als 35 000 Menschen wurden seit dem Putschversuch in Untersuchungshaft genommen, nach weiteren 4000 wird gefahndet, gegen 82 000 wird ermittelt. Wie diese Ermittlungs- und Strafverfahren jemals gerecht abgewickelt werden sollen, ist nicht zu erkennen – zumal die Justiz infolge der Suspendierung von Tausenden Richtern und Staatsanwälten nur eingeschränkt handlungsfähig ist. Über 4000 Soldaten und 50 000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes – Lehrer, Polizisten, Richter, Staatsanwälte, Ärzte – wurden entlassen.

Festgenommenen darf fünf Tage lang jeder Kontakt zu einem Anwalt verweigert werden. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat bereits 13 Fälle von Folter und Misshandlungen seit dem Putschversuch dokumentiert. Wie groß die Dunkelziffer ist, weiß niemand. Mit dem Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Coup verhängt und erst kürzlich um weitere drei Monate verlängert wurde, ist der unter Erdogan ohnehin in den vergangenen Jahren immer weiter demontierte Rechtsstaat praktisch suspendiert.

Die EU braucht Erdogan in der Flüchtlingskrise

Der Präsident kann per Dekret am Parlament und am Kabinett vorbei im Alleingang regieren. Mit einer Verfassungsänderung und der Einführung eines Präsidialsystems will Erdogan den Status quo in den nächsten Monaten legalisieren und sich eine unumschränkte Machtfülle sichern. Dass Erdogan nun auch die Einführung der Todesstrafe wieder auf die Tagesordnung bringt, und zwar offenbar rückwirkend für die Akteure des Putschversuchs vom Juli, passt ins Gesamtbild eines Landes, das sich mit immer schnelleren Schritten in Richtung auf eine Diktatur bewegt.

Wie sollen die Partner und Verbündeten der Türkei mit der Entwicklung umgehen? Erdogan testet mit den jüngsten Repressionen gegen kritische Medien und dem Ruf nach der Todesstrafe aus, wie weit er gehen kann. Er weiß: Die EU braucht ihn in der Flüchtlingskrise. Das stimmt. Aber es darf kein Freibrief für den Staatschef sein. Die Europäer müssen Erdogan genauer auf die Finger sehen. Deutsche Abgeordnete sollten nicht nur die Bundeswehrsoldaten in Incirlik besuchen, sondern sich auch für die Zustände in den Gefängnissen, das Schicksal verhafteter Journalisten und die Foltervorwürfe interessieren.

Rauswurf aus Europarat wäre eine Antwort

Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe wäre eine rote Linie überschritten. Die Antwort kann nicht nur darin bestehen, die ohnehin fast eingeschlafenen EU-Beitrittsverhandlungen unverzüglich zu stornieren und die Türkei aus dem Europarat zu werfen. Eine EU, die gegen Russland Sanktionen verhängt, muss den Mut haben, das Instrument auch gegen die Türkei einzusetzen.