Desillusioniert über die allgegenwärtige Korruption: Istanbuls Bürgermeister Imamoglu. Foto: AFP/Bulent Kilic

Wie ein standhafter Bürgermeister seine Stadt in der Südosttürkei vor einer Katastrophe bewahrte.

Es gibt noch Wunder in der südosttürkischen Erdbebenregion, aber sie werden immer seltener: Am Mittwochabend meldeten Feuerwehrleute in der Stadt Antakya die Rettung eines 13-Jährigen aus den Trümmern. Antakya gehört zu den am schlimmsten getroffenen Städten. In zehn Städten der Region richtete das Beben vom 6. Februar schwerste Schäden an.

Aber ein Ort wirkt wie eine Oase inmitten der Zerstörung, die 42 000 Einwohner zählende Stadt Erzin. Kein Gebäude stürzte hier ein, niemand kam ums Leben, es gab keinen einzigen Verletzten. Dabei war das Epizentrum eines der beiden Beben nur 100 Kilometer entfernt. Doch während in den benachbarten Städten Tausende Gebäude einstürzten, gab es in Erzin nur geringe Schäden. Viele Einwohner sprechen von einem Wunder.

Bürgermeister Elmasoglu hat ein reines Gewissen

Es gibt rationale Erklärungen für das vermeintliche Mysterium, wie den stabilen Untergrund der Gegend und die niedrige Bebauung. Ein weiterer Grund heißt Ökkes Elmasoglu. Er ist seit vier Jahren Bürgermeister von Erzin. Elmasoglu weiß, warum das Beben seiner Stadt fast nichts anhaben konnte: „Ich habe kein illegales Bauen zugelassen“, sagte der 44-jährige Kommunalpolitiker im türkischen Fernsehen.

Viele hätte ihn deshalb angefeindet und spöttisch gefragt, ob er der einzige Anständige im Land sein wolle, berichtete er. Schon drei Monate, nachdem der Jurist im März 2019 als Kandidat der Oppositionspartei CHP zum Bürgermeister gewählt wurde, seien Verwandte zu ihm gekommen und hätten ihn bedrängt, einen Schwarzbau zu legalisieren, erzählte Elmasoglu. Aber er habe gesagt: „Tut mir leid, da kann ich nichts machen.“ Mit seiner standhaften Haltung hat sich der Bürgermeister in Erzin nicht nur Freunde gemacht. Heute gilt er vielen in der Türkei als Held. Er selbst gibt sich bescheiden. „Ich habe ein reines Gewissen“, sagt Elmasoglu.

Was droht der Stadt Istanbul?

Illegales Bauen ist nach jeder Erdbebenkatastrophe in der Türkei ein Thema. Immer wieder ignorieren profitsüchtige Bauunternehmer Vorschriften, sparen beim Baustahl, verwenden minderwertigen Beton oder bauen mehr Geschosse als zulässig. Staatschef Recep Tayyip Erdogan kommt deshalb in Erklärungsnot. Denn um Stimmen zu fangen, erließ seine Regierung im Wahljahr 2018 eine Amnestie, mit der mehr als 400 000 Schwarzbauten gegen Zahlung einer geringen Strafgebühr legalisiert wurden. Allein in Istanbul seien so 317 000 illegal errichtete Gebäude nachträglich genehmigt worden, sagte Ekrem Imamoglu, CHP-Oberbürgermeister der Bosporus-Metropole. „Ich wollte, ich könnte meinen Mitbürgern sagen: Schlaft friedlich in Euren Wohnungen“, sagte Imamoglu, „aber das kann ich nicht.“ Er schätzt, dass bei einem schweren Beben, wie es Seismologen für Istanbul erwarten, 90 000 Gebäude einsturzgefährdet sind.

Den Geologieprofessor Taylan Sancar beunruhigen unterdessen mehrere heftige Nachbeben diese Woche an der Malatya-Bruchzone, am nördlichen Rand des aktuellen Katastrophengebiets. Das letzte große Beben an dieser Bruchzone liegt laut Sancar rund 2600 Jahre zurück. Der Geologe erwartet nun ein Erdbeben der Stärke 7,4 bis 7,5.