Das Bundesverfassungsgericht hat der Politik aufgegeben, die Regeln bei der Besteuerung von Unternehmenserben zu überarbeiten. Foto: dpa

Hermann-Ulrich Viskorf, einer der höchsten Finanzrichter, nimmt die Pläne für die Erbschaftsteuer unter die Lupe.

Berlin - Herr Viskorf, als Vorsitzender des 2. Senates des Bundesfinanzhofes haben Sie sich seinerzeit gezwungen gesehen, wegen der Erbschaftsteuer das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Das Gericht hat das Gesetz im Dezember 2014 beanstandet. Inzwischen liegt der Regierungsentwurf vor. Zeichnet sich ab, dass es ein verfassungskonformes Gesetz wird?
Der Referentenentwurf des Bundesfinanzministeriums, der in dieser Woche voraussichtlich zum Regierungsentwurf wird, zeigt ein ernsthaftes Bemühen, die Vorgaben aus Karlsruhe umzusetzen und den jetzt schon 30 Jahre andauernden verfassungswidrigen Zustand bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu beenden. Angesichts der Vorgaben im Koalitionsvertrag, nur das unbedingt Notwendige zu tun, bleiben die Bemühungen eine Gratwanderung, weil ohne eine grundlegende Reform die strukturellen Schwächen des Gesetzes und seine Widersprüchlichkeit bestehen bleiben.
Die Länder und die Union haben Änderungswünsche für das parlamentarische Verfahren. Sehen Sie die Gefahr, dass am Ende eine Überprivilegierung herauskommt, die einer Überprüfung in Karlsruhe nicht standhält?
Die Bedenken der Länder, die mit ihren Landesfinanzverwaltungen das Gesetz vollziehen müssen, sind aus meiner Sicht zum Teil berechtigt, soweit sie auf einfachen Gesetzesvollzug insbesondere bei den Bewertungsfragen abzielen. Der Regierungsentwurf bedarf in der Tat in rechtstechnischer Hinsicht noch einer gründlichen Überarbeitung und Abstimmung. Dies wird hoffentlich im Rahmen der parlamentarischen Beratungen noch geschehen. Die Änderungswünsche aus den Reihen der CDU/CSU decken sich weitgehend mit denen der einschlägigen Industrie- und Unternehmerverbände. Deren Interesse ist naturgemäß darauf gerichtet, die derzeitige Vollverschonung betrieblichen Vermögens weitgehend und ohne wirksame Auflagen zu erhalten. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Verbandsfunktionäre und ihnen nahestehende Politiker den Untergang des deutschen Mittelstandes ausrufen und mit zum Teil abwegigen Äußerungen jedes ernsthafte Bemühen hintertreiben, den vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Zustand zu beseitigen. Wird diesen Kräften nachgegeben, führt der Weg – wie ich fürchte – erneut in die Verfassungswidrigkeit.
Zu den Details: Der Regierungsentwurf sieht lediglich Mehreinnahmen von 90 Millionen Euro in 2017 und dann ansteigend von 200 Millionen Euro in 2020. Lohnt dafür der ganze Aufwand des Gesetzgebungsverfahrens?
Soll in Deutschland weiterhin Erbschaftsteuer erhoben werden, ist dieser Aufwand zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands unabdingbar. Als Alternative bliebe nur die Abschaffung der Erbschaftsteuer, die ebenfalls politisch hochumstritten ist und einer Entscheidung durch den Gesetzgeber bedarf. Denn das derzeitige Erbschaftsteuerrecht gilt bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber gegebenenfalls auch über den 30. 6. 2016 hinaus fort, wobei dann das Bundesverfassungsgericht den verfassungswidrigen Zustand selbst zumindest vorläufig beseitigen wird.
Die geringen Mehreinnahmen, von denen das Bundesfinanzministerium ausgeht, stehen im Widerspruch zur Kritik von Familienunternehmen und Union. Da wird vor der „Kernschmelze des Mittelstands“ gewarnt. Können Sie sich diesen Widerspruch erklären?
Das Steueraufkommen aus der Erbschaftsteuer steht in der Tat bei nüchterner Betrachtung in keinem nachvollziehbaren Verhältnis zu den politischen Eruptionen, die in diesen Wochen wieder zu beobachten sind. Das gilt erst recht für die prognostizierten Mehreinnahmen, die im Wesentlichen daraus resultieren, dass mehr Vermögen zur Vererbung ansteht. Ich kenne neben der Erbschaftsteuer keine andere Steuerart, die  derart emotional und ideologisch belastet ist und von parteitaktischen und interessengeleiteten Verlautbarungen, wie beispielsweise der von ihnen genannten, bestimmt wird. Mehr Nüchternheit und Rationalität täte der Diskussion sicherlich gut.
Das Urteil hat der Politik aufgegeben, bei großen Erbschaften den Anspruch auf die Steuerverschonung im Einzelfall zu prüfen. Das Ministerium sah erst eine Prüfschwelle von 20 Millionen Euro je Erbteil vor. Dann sollte unter Bedingungen die Schwelle von 40 Millionen Euro gelten. Nun wurden die Prüfschwellen noch einmal erhöht auf 26 beziehungsweise 52 Millionen Euro. Ist dies noch mit der Vorgabe aus Karlsruhe vereinbar?
Das Bundesverfassungsgericht fordert in seinem Urteil vom 17. 12. 2014 die Verschonungsbedarfsprüfung nicht für „ganz große“, sondern für solche Unternehmen, welche die Größe kleiner und mittlerer Unternehmen überschreiten, und lässt offen, ab welcher Größenordnung ein solches Unternehmen gegeben ist. Der Referentenentwurf stellt nicht auf die Größe des Unternehmens, sondern auf die Höhe des Einzelerwerbs unternehmerischen Vermögens ab. Das ist sachgerecht, weil ein Einzelerwerb auch aus mehreren unternehmerischen Einheiten bestehen kann. Bei der Höhe des Einzelerwerbs ist zudem die Möglichkeit zu berücksichtigen, Betriebs(teil)-Übertragungen im Zehn-jahrestakt vorzunehmen und hierfür jeweils erneut die Steuervergünstigungen in Anspruch zu nehmen. Insgesamt halte ich die 20-Millionen-Euro-Grenze, ja auch die 26- Millionen-Euro-Grenze für grenzwertig, aber noch hinnehmbar, die 52-Millionen- Euro-Marke bei Familienunternehmen mit Entnahme- und Verfügungsbeschränkungen in den Gesellschaftsverträgen aber für viel zu hoch und durch tragfähige Sachgründe nicht gerechtfertigt. Denn die Berücksichtigung dieser Beschränkungen rechtfertigt keine sachliche Steuervergünstigung durch pauschale Erhöhung des Grenzwerts von 26 auf 52 Millionen Euro, sondern ist eine reine Bewertungsfrage. Die Sonderverschonung für die großen Familiengesellschaften ist deshalb systematisch völlig fehl am Platze. Hier bedient sich der Gesetzgeber wieder einer sachlich nicht zu rechtfertigenden und damit gleichheitswidrigen Typisierung, indem er ohne jede realitätsgerechte Anknüpfung an die tatsächliche Minderung des Werts solcher Beteiligungen als Folge von Verfügungs- und Entnahmebeschränkungen das Füllhorn großzügiger, bis zur Vollverschonung reichender Steuervergünstigung öffnet.
Das Gericht hatte eine individuelle Prüfung der Verschonungsbedürftigkeit bei großen Erbschaften angeordnet. Was ist davon zu halten, wenn der Steuerpflichtige sich dieser individuellen Prüfung entziehen kann, indem er sich mit einem geringeren Steuernachlass zufriedengibt – Stichwort: Optionslösung?
Ich halte sehr viel von diesem Options- oder besser Abschmelzmodell, bei dem es unter Verzicht auf die Vollverschonung nur noch zu einer Teilbefreiung des unternehmerischen Vermögens kommt. Denn die Diskrepanz zwischen der Nullbesteuerung der Unternehmenserben und der Hochbesteuerung der anderen ist die eigentliche Ursache für die verfassungsrechtliche Schieflage des Gesetzes. Das Abschmelzmodell sollte man auf alle Erwerbe unternehmerischen Vermögens ausdehnen und nicht nur auf die Fälle der Verschonungsbedarfsprüfung beschränken. Denn wird die Verschonung unternehmerischen Vermögens auf allen Ebenen bedarfsgerecht eingegrenzt, kann (auch bei Erwerben unter 26 Millionen Euro) auf der Seite der Rechtfertigungsgründe „abgerüstet“, das heißt auf eine Arbeitsplatzklausel und bei höheren Erwerben – wie im Referentenentwurf vorgesehen – auch auf eine Verschonungsbedarfsprüfung verzichtet werden. Dies wäre ein Beitrag zur Vereinfachung des Gesetzes, würde für die Unternehmen zu tragbaren und berechenbareren Steuerlasten führen und das Gesetz insgesamt verfassungsrechtlich deutlich

Hermann-Ulrich Viskorf

1950 geboren in Münster, nach dem Abitur Jura-Studium in Münster und Tübingen.

1977 Rechtsanwalt in Münster und Anwalt am Oberlandesgericht in Hamm

1980 bis 1991 Richter am Finanzgericht Münster

1987 bis 1989 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesfinanzhof (BFH)

Seit 1991 Richter am BFH, der höchsten Instanz in Steuer- und Zollsachen

Seit 2007 Vorsitzender Richter am BFH

Seit 2008 Vizepräsident des BFH (mgr)

Erbschaftsteuer

Betriebe mit bis zu drei Beschäftigten: Wenn der Erbe den Betrieb fünf Jahre hält, wird er zu 85 Prozent bei der Steuer verschont. Wenn der Erbe das Unternehmen sieben Jahre hält, wird er komplett von der Erbschaftsteuer verschont. Personalabbau ist möglich.

4 bis 10 Beschäftigte: Wenn das Unternehmen fünf Jahre weiter besteht und die Lohnsumme in dieser Zeit mehr als 250 Prozent beträgt, werden 85 Prozent der Steuer erlassen. Komplett wird die Steuer erlassen, wenn das Unternehmen sieben Jahre gehalten wird und die Lohnsumme mindestens 500 Prozent beträgt.

11 bis 15 Beschäftigte: Zu 85 Prozent wird die Steuer erlassen, wenn der Betrieb fünf Jahre weiterbesteht und die Lohnsumme 300 Prozent beträgt. Die Steuer wird komplett erlassen, wenn der Betrieb sieben Jahre gehalten wird und die Lohnsumme 565 Prozent überschreitet.

Über 15 Beschäftigte und Betriebsvermögen bis zu 26 Millionen je Erbe. Bei bestimmten gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen kann die Grenze bei 52 Millionen liegen: 85 Prozent der Steuer werden erlassen, wenn der Betrieb fünf Jahre bestehen bleibt und die Lohnsumme mindestens bei 400 Prozent liegt. Die Steuer wird komplett erlassen, wenn der Betrieb sieben Jahre bestehen bleibt und die Lohnsumme bei 700 Prozent liegt.

Ab Betriebsvermögen von 26 Millionen Euro je Erbe (oder 52 Millionen) darf der Erbe wählen zwischen einer individuellen Prüfung, ob Anspruch auf Steuerverschonung besteht. Dabei muss das Privatvermögen aufgedeckt und bis zur Hälfte zur Begleichung der Steuerschuld eingesetzt werden. Oder: Der Erbe verzichtet auf Aufdeckung seiner Vermögensverhältnisse, dann ist der Steuernachlass geringer

weniger angreifbar machen.