Zell-Mutation und -Entartung: Eine Krebszelle (dunkelviolett) breitet sich in gesundem Gewebe aus und befällt dieses. Foto: Imago/Pond5 Images

Dass Tumore durch Mutationen oder Schäden des Erbguts entstehen, ist bekannt. Doch welche Rolle spielen Umwelteinflüsse – also epigenetische Faktoren – bei der Entartung von Zellen? Forscher haben das jetzt untersucht und sind zu bahnbrechenden Ergebnissen gekommen.

Wer bei einem ganz normalen Arztbesuch mit der Diagnose Krebs konfrontiert wird, ist schockiert. Warum gerade ich? Habe ich zu viel geraucht, mich ungesund ernährt, zu wenig bewegt, zu viel Stress gehabt? Allgemeiner gefragt: Welchen Einfluss haben Lebensstil, Umwelteinflüsse, Stress und Gene auf die Entstehung bösartiger Tumore? Welche Rolle spielen die sogenannten Epigenome?

 

Jedes Jahr erleben rund 500 000 Menschen in Deutschland einen solchen Schockmoment. Während bei den einen Operationen, Behandlungen und Therapien das Leben verlängern oder den Krebs sogar besiegen können, sterben andere an der Tumorerkrankung. Im Jahr 2021 waren das laut Krebsinformationsdienst mehr als 230 000 Menschen.

Die Ausgangsfrage: Wie beeinflussen Mutationen und Umwelt Krebs?

Tumore entstehen durch Mutationen – also spontan entstehende oder künstlich erzeugte, dauerhafte Veränderung des genetischen Materials einer Zelle – oder durch Schäden unserer DNA, welche die Entartung der Zelle bewirken.

Doch auch epigenetische Veränderungen am Erbgut können Krebs auslösen, wie Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten. Diese chemischen Anlagerungen am Genom führen zu Tumoren, indem sie das Ablesen der genetischen Informationen blockieren oder verstärken. Die Gene selbst bleiben dabei unverändert, doch ihr Ablese-Mechanismus ist gestört.

Die These: Krebs ist keine ausschließlich genetische Erkrankung

Ein besonders heimtückisches Epigenom ist Stress, wenn man Krebs (auf dem Bild sind Krebszellen in 3D-Darstellung abgebildet) hat. Denn die Stresshormone können die Wachstumsprozesse in Tumorzellen aktivieren und so die Metastasierung begünstigen. Foto: Imago/Panthermedia

Die zahlreichen verschiedenen Krebsarten haben eines gemeinsam: Bestimmte Zelltypen geraten außer Kontrolle und wachsen ungebremst. Auslöser sind in den meisten Fällen geschädigte Chromosomen oder DNA-Mutationen, welche die Funktion von Proteinen und anderen Zellprozessen beeinträchtigen. Ist Krebs also nur eine genetische Erkrankung?

Nicht ganz. Denn neben der Erbinformation DNA spielen auch sogenannte Epigenome eine entscheidende Rolle für das Funktionieren und die Fehlfunktionen von Zellen – also möglicherweise auch für die Entstehung von Krebs, wie neuere Studien zeigen.

Das Experiment: Wie Epigenome die Tumorbildung beeinflussen

  • Epigenome: Epigenome sind chemische Anlagerungen am DNA-Strang, die Gene im Erbgut einer Zelle ablesen und so bestimmen, welche Eigenschaften und Funktionen diese Zelle etwa als Haut-, Muskel- oder Nervenzelle erhält. Forscher um Victoria Parreno von der Universität Montpellier in Frankreich haben jetzt mithilfe von Fruchtfliegen (Drosophila) untersucht, wie groß ist der Einfluss der Epigenome auf die Tumorbildung ist.
3D-Darstellung einer epigenetischen Regulation (Bestimmung) der Genexpression (Bildung eines von einem Gen kodierten Genprodukts, vor allem von Proteinen oder RNA-Molekülen) ohne Veränderungen der DNA-Sequenz. Foto: Imago/Panthermedia
  • Polycomb-Proteine: Dafür veränderten sie das Erbgut der Fliegen – speziell die sogenannten Polycomb-Körper (englisch polycomb bodies, PcG bodies) – und behoben dies anschließend wieder. PcG bodies sind Proteinkomplexe im Zellkern, die unter anderem in Pflanzen, Fliegen (wie Drosophila) und Säugetieren vorkommen. Diese Proteine sind quasi epigenetische Schalter, welche verschiedene Gene und Signalwege der Zellen regulieren. Man weiß bereits, dass bei vielen Krebsarten beim Menschen ein Defekt in diesen Schaltern vorliegt.
  • Tumore: Durch die Änderungen bildete sich im Fliegengewebe ein Tumor, der auch dann noch weiterwuchs, nachdem das ursprünglich auslösende epigenetische Signal rückgängig gemacht wurde. Die Gensequenzen im Erbgut blieben dabei unverändert. Die Larven starben elf Tage nach Beginn des Tumorwachstums. In erwachsenen Fliegen, denen ein solcher Tumor eingepflanzt wurde, breitete sich der Krebs weiter aus und führte zu Metastasen, wie die Mediziner berichten.

Das Fazit: Epigenetische Faktoren können Krebs auslösen

3D-Darstellung des Prozesse, in dem eine Krebszelle sich im gesunden Gewebe ausbreitet und regelrecht „durchfrisst“. Foto: Imago/Panthermedia

Diese Experimente belegen zum ersten Mal, dass Krebs auch ausschließlich durch epigenetische Faktoren verursacht werden kann. Diese Faktoren führen zu einem „sich selbst erhaltenden epigenetischen Zustand, der das Tumorwachstum unterstützt“, schreibt die Biologin Anne-Kathrin Classen von der Universität Freiburg in einem Kommentar zur Studie („Tumours form without genetic mutations“).

Gen-Mutationen sind folglich für die Entstehung von Krebs nicht zwingend notwendig. Die Befunde begründen damit einen „Paradigmenwechsel in der Krebsmedizin“, so Anne-Kathrin Classen. Zugleich könnten die Erkenntnisse neue Möglichkeiten für eine „personalisierte Krebstherapie“ eröffnen. Dafür muss jedoch zunächst untersucht werden, ob die Befunde auch für Menschen gelten.

„Bei Menschen können vorübergehende epigenetische Veränderungen durch Umwelteinflüsse entstehen, die spezifisch für die Lebensgeschichte einer Person sind, wie etwa bestimmte Diäten oder Medikamente oder die Exposition gegenüber chemischen Stoffen.“ Ob diese Veränderungen bei uns aber tatsächlich zu Krebs führen, bleibt demnach unklar.

Info: Gene und Epigenome – die beiden Codes des Lebens

Genom
Alle Zellen des menschlichen Körpers, zusammengenommen sind das rund 28 Billionen, besitzen die gleiche genetische Information – das Genom. Dieses Erbgut umfasst alle in einer Zelle vorhandenen Erbinformationen und ist der erste Code des Lebens. Das Genom oder Erbgut ist also die Gesamtheit aller Gene. Die DNA ist die Trägerin der Erbinformationen.

DNA
DNA steht für Desoxyribonukleinsäure (DNS, englisch: deoxyribonucleic acid). DNA ist ein Makromolekül – dass heißt ein großes Molekül –, das im Kern fast jeder Zelle eines Lebewesens zu finden ist. In der DNA sind die Informationen zur Entwicklung und Funktion des Lebewesens gespeichert. Jeder Abschnitt der DNA, der für ein bestimmtes Protein kodiert (verschlüsselt), wird als Gen bezeichnet.

 DNA-Bausteine
Die DNA ist spiralförmig wie eine Strickleiter aufgebaut und besteht aus einer schier endlosen Abfolge von vier verschiedenen chemischen Grundbausteinen. Sie sind die Buchstaben des genetischen Textes und bilden einen Code, den die Zellen wie Baupläne lesen und in die zahlreichen Eiweißmoleküle übersetzen, aus denen sich ein Lebewesen zusammensetzt. Die vier DNA-Bausteine sind der Zucker Desoxyribose, verbunden im Wechsel mit Phosphat. Die Sprossen dieser Leiter werden von vier organischen Basen gebildet: Adenin (A) und Thymin (T), Cytosin (C) und Guanin (G). A bindet sich mit T, C bindet sich mit G. Eine andere Kombination ist nicht möglich.

Doppelhelix
Die DNA-Strickleiter wiederum ist zweifach um die eigene Achse schraubenförmig gedreht – die Helix. Ihr Durchmesser beträgt zwei Nanometer – zwei Billionstel Meter. Die Einzelstränge bilden die sogenannte Doppelhelix.

Zelltypen
Die Billionen von Zellen entwickeln sich zu mehr als 250 verschiedenen Zelltypen, von denen jede darauf spezialisiert ist, eine bestimmte Funktion zu erfüllen oder ein spezialisiertes Gewebe zu bilden. Zu den wichtigsten Zelltypen im Körper gehören zum Beispiel: Stammzellen, rote Blutzellen (Erythrozyten), weiße Blutzellen (Leukozyten), Blutplättchen (Thrombozyten), Nervenzellen (Neurone), Muskelzellen (Myozyten) und Knorpelzellen (Chondrozyten)

Epigenom
Diese ungeheure zelluläre Vielfalt beruht auf Mechanismen, die in den verschiedenen Zelltypen bestimmte Gene ausprägen und andere deaktivieren. Dabei werden Gene und die sie einhüllenden Proteine chemisch modifiziert (umgestaltet). Die genetische Information – der genetische Code – wird allerdings nicht verändert. All diese Modifizierungen bilden zusammen das sogenannte Epigenom (von griechisch „epi“ – darüber). Das Epigenom ist der zweite Code des Lebens, der quasi wie eine Hülle über unserem Erbgut liegt.

Epigenetik
Dieser Code kann den Genen eine Art Gedächtnis verleihen, das ihre Aktivität langfristig beeinflusst und vererbt werden kann. Vor allem äußere Einflüsse wie Ernährung, Stress oder Umweltgifte prägen die epigenetische Programmierung unserer Zellen. Die Wissenschaft, die sich mit den Epigenomen beschäftigt, heißt Epigenetik, ein noch relativ junges Teilgebiet der Biologie. Begründet hat sie der britische Entwicklungsbiologe und Genetiker Conrad Hal Waddington (1905-1975), der den Begriff Epigenetik im Jahr 1942 erstmals verwendete.

Umwelt und Gene
Der Begriff Epigenetik setzt sich zusammen aus den Wörtern Genetik (griechisch: „génesis“, Abstammung, Ursprung) und Epigenese (griechisch: „epigenesis“, nachträgliche Entstehung). Die Epigenetik fügt zwei fundamentale Bereiche zu einer Einheit zusammen: zum einen Umweltfaktoren, zum anderen Gene und angeborene Merkmale. Die Medizin spricht von sogenannten konnatalen Merkmalen, die im Mutterleib oder während der Geburt erworben werden. Äußere Einflüsse können sie regulieren, so dass ein Gen unter ganz bestimmten Umständen aktiviert oder deaktiviert wird.