New York 1977 in der Serie „The Get Down“: Mamoudou Athie als Grandmaster Flash (links) führt Shameik Moore als Shaolin Fantastic in die DJ-Künste ein. Foto: David Lee/Netflix

Die Geburt der Subkultur aus den Trümmern des Großstadtmolochs: Der Roman „City On Fire“ und die Fernsehserie „The Get Down“ erinnern daran, wie 1977 in New York Hip-Hop, Disco und Punk explodierten.

Stuttgart/New York - Diese Geschichte erzählt zwar davon, wie im Jahr 1977 in New York City der Blitz einschlug und wie in einer Stadt, die an ihrem absoluten Tiefpunkt angekommen war, die Subkultur explodierte. Sie beginnt aber nicht zwischen den brennenden Häusern der South Bronx oder in den schäbigen Absteigen an der Lower East Side, sondern in einer Stuttgarter Kellerdisko zwischen Calwer und Kronprinzenstraße. An einem Freitagabend im Januar 2011 steht ein grimmiger Mann am DJ-Pult im Romy S. „Dieser Plattenspieler ist völlig unbrauchbar“, flucht der Schirmmützenträger, der sich Grandmaster Flash nennt und in ein paar Stunden beim 12inch Friday das machen soll, was er besser als alle anderen kann: Platten auflegen. Seit über 30 Jahren arbeitet er als DJ.

Als Joseph Saddler in der South Bronx in New York aufgewachsen, legt er bereits seit den 1970ern Platten auf, langweilt sich aber bald damit, immer nur ein Lied nach dem anderen zu spielen, fängt an, verschiedene Platten gleichzeitig laufen zu lassen, bestimmte Breaks durch das Zurückdrehen einer Platte wieder und wieder zu spielen, entwickelt eine unglaubliche Fingerfertigkeit beim sogenannten Scratching, dieser neuen Kulturtechnik, die den Hip-Hop-Boom später prägen wird. 2011 in Stuttgart hat Grandmaster Flash allerdings überhaupt keine Lust, über seine Rolle als Hip-Hop-Pionier zu reden, und über das Jahr 1977, als er nicht der einzige Blitz war, der in New York City einschlug. „Das ist doch alles längst vorbei“, behauptet er damals mürrisch, „da ist doch schon alles gesagt worden.“

Die Serie „The Get Down“ erzählt Grandmaster Flashs Geschichte des Hip-Hop

Inzwischen hat er seine Meinung geändert – und die TV-Serie „The Get Down“ kann das beweisen. Baz Luhrmann erzählt darin Musical, Komödie und Drama vermengend vom Jahr 1977, in dem die Bronx brennt und aus den Trümmern des New Yorkers Ghettos eine neue aufregende Musik namens Hip-Hop entsteht. „The Get Down“ inszeniert eine mythische Heldenreise. In dieser wird kein anderer als Grandmaster Flash (gespielt von Mamoudou Athie) zu einer Art Obi-Wan Kenobi für seine jugendlichen Musikschüler. Grandmaster Flash – inzwischen 58 Jahre alt – hat Luhrmann bei dem Projekt beraten, ist ausführender Produzent. Und wenn die Serie sich nicht gerade um ihren Romeo-und-Julia-Plot kümmert, erzählt sie die Geschichte des Hip-Hop – so wie sie Grandmaster Flash sieht.

„The Get Down“ setzt aber nicht nur Grandmaster Flash und dem Hip-Hop ein Denkmal, sondern auch dem Jahr 1977, das selbst für das Aufregungen gewöhnte New York außergewöhnlich ist. Die Stadt ist kaputt, gefährlich und pleite, aber voller Energie. Während in der South Bronx der Hip-Hop entsteht und die Discowelle mit der Eröffnung des Studio 54 in Midtown ihren exzentrisch-hedonistischen Höhepunkt erlebt, wird die Gegend zwischen der Lower East Side und dem East Village zum Zuhause einer neuen Bohème und das CBGB’s auf der Bowery zum Epizentrum der Punk- und New-Wave-Szene. Hilly Kristal, der hier jede Band spielen lässt, die ihre Anlage selbst auf die Bühne schleppt und nicht nur Coversongs im Programm hat, ist der erste, der den Ramones, Blondie, den Talking Heads, Patty Smith oder Television Auftritte verschafft.

Der Roman „City On Fire“ ist ein grandios verdichtetes Großwerk

In dieser Welt spielt Garth Risk Hallbergs sensationellen, überwältigenden Roman „City On Fire“. Während „The Get Down“ in grellbunten Farben das New York des Jahres 1977 comichaft überzeichnet, ist Hallbergs literarischer Gegenentwurf ein in kühlen Schwarz-weiß-Tönen gehaltenes grandios verdichtetes Großwerk. Zu den Figuren, die sich Hallberg ausgedacht hat, zählt zum Beispiel die 17-jährige Samantha, die ein Underground-Punk-Fanzine vollschreibt und irgendwann halbtot im Central Park gefunden wird. Oder ihr gleichaltriger Kumpel Charlie, für den die große, wilde Stadt und ihre Subkultur sein erstes großes pubertäres Abenteuer darstellt. Oder der schwule Konzernerbe William Hamilton-Sweeney III, der unter dem Pseudonym Billy Three-Sticks als Sänger der Punkband Ex Post Facto ein wenig Berühmtheit erlangt hat.

Außerdem füllt der erst 38-jährige Hallberg sein Buch (für das ihm sein US-Verlag rund zwei Millionen Dollar Vorschuss zahlte) mit Geschäftemachern, Journalisten, Polizisten, einem Lehrer, der davon träumt, den großen amerikanischen Roman zu schreiben, und einer Anarchistentruppe, die sich Post-humanistische Phalanx nennt. „City On Fire“ verzahnt diese Geschichten so virtuos, ist so aufregend erzählt, dass ein einzigartiges New-York-Panoptikum des Jahres 1977 entsteht.

1977 ist New York nicht das großartige Amerika Trumps

Falls die USA tatsächlich einmal großartig waren, wie Donald Trump in seinem Werbeslogan „Make America Great Again“ suggeriert, dann bestimmt nicht dort und zu dieser Zeit. Der Times Square ist 1977 kein Disneyland für Touristen, sondern Tummelplatz von Zuhältern und Prostituierten, in den Central Park geht man nur, wenn man unbedingt ausgeraubt werden will, ein Serienkiller, der sich Son Of Sam nennt, versetzt die New Yorker in Angst und Schrecken. Und als ob es noch eine weitere Eskalation gebraucht hätte, geht dann auch noch das Licht aus. Nach einem Blitzeinschlag erlebt New York am 13. Juli 1977 seine dunkelste Nacht. Der Blackout dauerte 25 Stunden, neun Millionen Menschen sind ohne Strom. Die Stadt ist im Ausnahmezustand – Chaos, Verwüstungen, Plünderungen. Die Polizei ist überfordert, und am nächsten Tag werden zahllose neue Punkbands gegründet, beginnen Hip-Hop-Crews ihre Karriere – mit Instrumenten und Equipment, das sie während des Blackouts geklaut haben.

Beiträge zur New-York-Mythenbildung

So unterschiedlich die Perspektiven sind, die „The Get Down“ und „City On Fire“ bei ihrem Blick auf diese Stadt und diese Zeit wählen, so sehr verbindet die Serie und den Roman, dass sie den Tag, an dem der Blitz einschlägt, zum dramaturgisch entscheidenden Moment ihrer Erzählungen machen. Und dass sie die Mythenbildung um das New York der 1970er Jahre eifrig vorantreiben– wie es aber gerade auch Terence Winters Fernsehserie „Vinyl“ (HBO) oder Don Cheadles Miles-Davis-Biopic „Miles Ahead“ (ab 5. Dezember auf DVD) getan haben.

Inzwischen hat das CBGB’s einem Herrenausstatter Platz gemacht, das Studio 54 ist jetzt ein Theater, der Hip-Hop ist an die Westküste gezogen. Und Grandmaster Flash reist zwar immer noch unermüdlich durch die Welt. Doch der Mann, der Plattenspieler in Musikinstrumente verwandelt hat, lässt die Vinylscheiben inzwischen lieber zu Hause: „weil die viel zu sperrig sind“, sagt er damals im Januar 2011 im Romy S. Der Schallplattenkoffer wurde durch einen Computer voller Sounddateien ersetzt. Aber das ist eine andere Geschichte.

New York 1977 – der Mythos

Eine Auswahl an Auseinandersetzungen mit einem der aufregendsten Jahre in der Geschichte New York Citys (und der Popkultur):

Die TV-Serie Baz Luhrmann erzählt in dem Musikdrama „The Get Down“ (auf Netflix) eine Romeo-und-Julia-Story zwischen Hip-Hop und Disco, Kleinkriminellen und Bauspekulanten – eine kunterbunte Zeitreise.

Der Roman Garth Risk Hallberg beschreibt in dem Roman „City On Fire“ New York als Stadt im Ausnahmezustand. Eine Krimi, eine Coming-of-Age-Story, die Bestandsaufnahme einer Umbruchzeit (S. Fischer Verlag, Frankfurt, 1080 Seiten, 25 Euro).

Die Dokumentation Vom Stromausfall über Disco bis zur sexuellen Revolte – Henry Corra dokumentierte in seinem für einen Emmy nominierten Film „NY77: The Coolest Year In Hell“ (2007) ein durch und durch turbulentes Jahr (über die Videoportale Youtube und Vimeo abrufbar).