1958 wurde der kleine Joachim Göhner an der Löwenstraße entführt und getötet. Der Fall ging als erstes Kidnapping mit Erpressung in die Historie der Polizei ein. Der gefasste Täter Emil Tillmann nimmt sich im Gefängnis das Leben. Foto: Archiv

Vor genau 60 Jahren, am 15. April 1958, ereignete sich die allererste Kindesentführung in Deutschland – in Stuttgart. Der siebenjährige Joachim Göhner aus Stuttgart-Degerloch verschwand, der Täter forderte 15 000 Mark von den Eltern. Doch zu diesem Zeitpunkt war der Siebenjährige längst tot.

Filder - Geld kann Menschen verderben. Es kann sie zu gierigen, neidischen und bösartigen Personen werden lassen. Manchmal treibt es sie zu ungeheuerlichen Taten, die einem auch 60 Jahre später noch Gänsehaut bereiten – so wie der Fall Tillmann/Göhner. Die Tat ging als erste Kindesentführung mit Erpressung in die bundesdeutsche Kriminalgeschichte ein, bis dahin hatte es solche Fälle nur in Amerika oder bei der italienischen Mafia gegeben. Am 23. April 1958 schrieb die Stuttgarter Zeitung: „Stuttgart hat noch nie ein so scheußliches Verbrechen erlebt.“

Es ist Dienstag, der 15. April 1958, als der siebenjährige Joachim Göhner aus Degerloch entführt wird. Mit seiner Familie lebt der Sohn eines Textilkaufmanns an der Löwenstraße 96. Mittags will er seinen Freund Martin besuchen. Das Kindermädchen erlaubt es, wenn er um 12.45 Uhr wieder zu Hause ist. Doch der Junge wird nie mehr nach Hause kommen.

Der Täter fordert 15 000 Mark von den Eltern

Am Löwenplatz wird Joachim Göhner von einem Mann auf einem Fahrrad angesprochen. Zunächst beobachten sie gemeinsam ein Eichhörnchen, dann schlägt der Mann vor, gemeinsam an einen Ort im Wald zu fahren, an dem man „ganz viele Rehlein“ sehen könne. Er verspricht, dass die beiden bis 13 Uhr längst wieder daheim seien; er habe ja ein Fahrrad. Der Siebenjährige steigt auf den Gepäckträger. Die Fahrt zu den vermeintlichen Rehen geht Richtung Haldenwald zwischen Sonnenberg und Kaltental. Am Nachmittag ruft die Familie bei der Polizei an. Ihr Sohn ist verschwunden.

In der Nacht darauf meldet sich der Täter bei dem Vater des entführten Joachim Göhner. Er fordert 15 000 Mark für die Freilassung des Jungen. Am Abend des 17. April wird der Vater vom Anrufer Richtung Vaihingen gelotst, dort sollen neue Anweisungen bereitliegen. Doch Regen hat die Botschaft nahezu unleserlich gemacht, das Ultimatum verstreicht. Später stellt sich heraus, dass der Junge zu diesem Zeitpunkt längst tot war.

Deutschlandweit ist die Täterstimme im Radio zu hören

Am 22. April macht ein Arbeiter in einem Tannengehölz im Gewann Haldenwald dann einen grausigen Fund: ein totes Kind, an Händen und Füßen gefesselt. Gerichtsmediziner stellen fest, dass das Opfer erwürgt wurde. Zunächst nimmt die Polizei einen Falschen fest: einen 31-Jährigen, der just am 15. April verschwunden sei und dessen Freundin ihn verdächtigt. Der Mann entgeht nur knapp der Lynchjustiz – hat aber für den Tattag ein wasserdichtes Alibi.

Die Ermittler geraten zunehmend unter Druck. Die Presse fordert seit Tagen, die Tonband-Stimme des Täters im Rundfunk auszustrahlen. Schließlich gibt Kurt Frey, der damalige Inspektionsleiter der Kriminalpolizei, nach. Er lässt die Stimme deutschlandweit im Radio abspielen – und obwohl die Qualität extrem schlecht ist, erkennen sieben von rund 3000 Hinweisgebern den 40-jährigen Gärtner Emil Tillmann aus Viersen im Rheinland wieder.

Mit dem Geld sollte Freundin überzeugt werden

Der 1,55 Meter große Mann, der an der Jahnstraße 49 zur Untermiete wohnt, ist wegen diverser Kleindiebstähle polizeibekannt. Er ist seit dem Jahr 1956 geschieden und Vater eines Sohnes, zu dem er keinen Kontakt hat. Bei der Durchsuchung seines Hauses findet die Polizei unter anderem eine Gesichtsmaske, Schnüre, die zu denen passten, mit denen der Siebenjährige erdrosselt wurde sowie Überreste der Botschaften, die er an die Familie Göhner geschrieben hat.

Der Mord an dem Degerlocher Jungen hat mit Liebe und Geld zu tun: Bei einer Faschingsparty hatte Tillmann eine 48-jährige verheiratete Frau in Degerloch kennengelernt, in die er sich offenbar verliebte. Durch die Entführung des Siebenjährigen wollte er an Geld kommen, um seine verheiratete Freundin zur Scheidung von ihrem Mann zu motivieren. Die Frau wollte ihn wohl nur dann ehelichen, wenn ihre neue Ehe eine finanzielle Basis habe.

In der Zelle bringt sich Tillmann um

Am 11. Mai 1958 bricht Emil Tillmann sein Schweigen und legt ein lückenloses Geständnis ab. Er berichtet, wie er sich im Tannengehölz Handschuhe angezogen und den arglosen Jungen erwürgt hat – noch am Entführungstag zur Mittagszeit. Vier Tage später bestätigt die Polizei auf einer Pressekonferenz die Festnahme Tillmanns. Als dieser auf dem Weg von der Polizeistation an der Dorotheenstraße in Stuttgart-Mitte zur Haftanstalt nach draußen geführt wird, kommt es zu einem Fotografenauflauf.

Am 22. Mai 1958 schließt die Polizei die Akten. Doch noch bevor die Staatsanwaltschaft den Fall übernimmt, bringt sich Tillmann um. Am 23. Mai dreht er sich in seiner Zelle einen Strick und erhängt sich an Fenstergittern. Er hinterlässt nur wenige Zeilen: „Ich habe jetzt alles gesagt und hoffe, Sie werden damit zurechtkommen.“ Weil er nie verurteilt wurde, darf er theoretisch bis heute nicht als Mörder von Joachim Göhner bezeichnet werden.

Viele Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr raus

Michael Kühner, der ehemalige leitende Kriminaldirektor und Vorsitzende des Polizeihistorischen Vereins Stuttgart, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Fall. Er war zu dem Tatzeitpunkt zehn Jahre alt, nur drei Jahre älter als Joachim Göhner. „Wenn ich mich heute mit Menschen unterhalte, die zwischen 60 und 80 Jahren alt sind, erinnern sich viele noch daran, dass ihre Eltern sie danach nicht mehr auf der Straße spielen ließen“, berichtet er. Seine Eltern gingen nicht so weit; er wuchs im Stuttgarter Westen auf, und die Familie fühlte sich weit genug entfernt von Degerloch. „Doch der Fall hat natürlich die ganze Stadt beschäftigt. Und viele Menschen von der Filderebene, die das damals mitbekommen haben, sprechen auch heute noch darüber“, sagt Michael Kühner. Eine Bekannte von ihm ging sogar mit Joachim Göhner in den Kindergarten.

Insgesamt war der Fall zu diesem Zeitpunkt einzigartig in Deutschland, in Stuttgart ist er es bis heute geblieben. Das ist auch mit ein Grund, warum Michael Kühner und Heidi Debschütz den Mord in ihrem neuen Buch „Blaulicht im Kessel – Stuttgarter Polizeigeschichte(n)“ aufgenommen haben. Zudem können Interessierte in dem 2015 eröffneten Polizeimuseum am Pragsattel in Stuttgart mehr über die grausame Tat erfahren. Sogar die Aufnahme des Erpressungsanrufes, mit der der Entführer seinerzeit überführt wurde, kann man dort anhören.