Ukrainerinnen erzählen am Schlossplatz über ihre Flucht und den Krieg. Foto: Lokstoff

Das Ensemble Lokstoff überrascht das Publikum auf der Königstraße mit der Inszenierung von realen Kriegsgeschichten von Geflüchteten aus der Ukraine.

Verlust. Trennung. Perspektivlosigkeit. Entwurzelung. Wohin mit all dem Schmerz? Wie damit umgehen, dass die Liebsten in Kiew zurückbleiben mussten. Und da ist Alisa, das kleine Kätzchen, das in der Ukraine bleiben musste. Auch sie fehlt. Mit all diesen Gefühlen geht Vlada Kolesnyk (18) Tag für Tag um. Genauso plagt sie ihr Gewissen. Während sie seit Mitte März in Stuttgart in Sicherheit ist, leben ihre Lieben im Sirenenlärm und in Angst vor dem nächsten Bombeneinschlag. „Am ersten Kriegstag musste ich zur Arbeit gehen, aber es war beängstigend, weil mein Theater in der Nähe des Innenministeriums ist“, erzählt sie. Aber mindestens so schlimm wie die eigene Angst ist die um ihre Familie: „Ich verstehe nicht, wie man weiterleben und sein eigenes Ding machen soll“, sagt sie betroffen, „wissend, dass jemand so teuer für deine Freiheit bezahlt hat?“

Wohin mit all dem Schmerz?

Viel Leid für einen jungen Menschen auf einen Schlag, der dieses Schicksal mit vielen anderen Geflüchteten teilt. Und doch hat das Leben von Vlada Kolesnyk noch eine Besonderheit. Denn bis zum Angriff Russlands studierte sie an der Kiewer Universität Kinematografie – mit viel Begeisterung und voller Ideen. Genau diese Ideen und ihre zügellose Kreativität können im Exil ebenso zu einem Problem anwachsen. So stellt sich für Vlada Kolesnyk nicht nur die Frage: Wohin mit all dem Schmerz? Sie fragt sich auch: Wie soll ich in Stuttgart meine Kunst ausleben?

Das Institut für Auslandsbeziehungen half weiter. Dort empfahl man der Filmemacherin, sich an das Ensemble Lokstoff zu wenden. Dort engagiere sich man seit langer Zeit in der Arbeit mit jungen Geflüchteten und integriert diese immer wieder in Theaterproduktionen. Tatsächlich rannte die Ukrainerin bei Kathrin Hildebrand offene Türen ein. „Die Chemie zwischen uns stimmte sofort“, sagt Hildebrand und erntet liebevolle Zustimmung von Vlada Kolesnyk. Dass die Konstellation passt, zeigte sich am Dienstag. Da realisierte Lokstoff zusammen mit vier weiteren Ukrainerinnen die erste Performance am Schlossplatz.

Die jungen Damen kletterten in die aufblasbaren Kugeln, die man aus dem Kafka-Projekt von Lokstoff kennt. „Die Kugeln sind in dieser Performance ein Symbol für die Isolation und das Alleinsein“, sagt Hildebrandt. In diesen Bubbles erzählten sie auf der Königstraße die Geschichten von Vertreibung und Krieg. Auch die von Svitlana: „Ich bin eine gewöhnliche ukrainische Lehrerin aus der malerischen Stadt Izyum. Mit Beginn des Krieges wurde Izyum als Mariupol in Miniatur bekannt. Wir zogen in den Keller, wo wir die meiste Zeit Gebete rezitierten. Am schlimmsten war das Dröhnen der Flugzeuge, die zuerst über uns hinwegflogen, als würden sie die Gegend überblicken, und dann zurückkehrten – und Bomben abwarfen. Und Sie sitzen da und wissen nicht, wo diese Bombe hinfallen könnte. Wirst du im nächsten Moment am Leben sein? Diese schrecklichen Momente des Wartens sind mit Worten nicht zu beschreiben. Ich hatte das Glück, dieser Hölle zu entkommen. Aber wie lebe ich mit all dem weiter?“

„Die Kinder hatten schreckliche Angst“

Eine Frage, die von einigen Zuschauern mit beschämtem Blick quittiert wurde. Wer diese Geschichten hautnah erzählt bekommt, muss unwillkürlich an die eigene Lebenssituation denken. Oder an die der anderen, denen der eingebildete Mangel an Sonnenblumenöl zusetzt. Auch die Geschichte von Maria, einer 35-jährigen Mutter von drei Kindern, relativierte solche Alltagssorgen mit denen echter Not: „Die Kinder hatten in Kiew schreckliche Angst. Das Essen in den Läden verschwand. Wir standen sechs bis acht Stunden in der Schlange, um in den Laden zu gelangen. Uns war klar, dass wir die Kinder retten mussten und fuhren los. Wir haben nur Dokumente und Lebensmittel mitgenommen, der Krieg hat uns alles genommen. Der Krieg trennte uns von der Ukraine und meinem Mann. Was passiert jetzt mit uns, wie werden sich unsere Kinder hier fühlen, wie sollen wir weiterleben?“

Die Frage kann keiner beantworten. Aber das erwartet Vlada Kolesnyk auch nicht. Für sie hat sich mit der Lokstoff-Produktion wenigstens ein bisschen Normalität eingestellt. Sie kann sich darstellen und mitteilen. Was ihr noch wichtiger ist, sie kann auf diese Weise den Schrecken des Krieges allen im Bewusstsein verankern: „Eine meiner größten Sorgen ist, dass die Geschichten vom Leid des Krieges auf die Dauer zu einer gewissen Normalität werden.“