Kurzschluss und Rauchentwicklung in einer Oberleitung am Böblinger Bahnhof: Die Störung hat am Donnerstagvormittag massive Auswirkungen auf den Bahnverkehr.
Ratlose Gesichter rund um den Böblinger Bahnhof und an den Böblinger Bussteigen: Seit dem Morgen geht nichts mehr an den Gleisen. Vor dem Bahnhof stehen mehrere Polizeifahrzeuge. Aus der Unterführung kommen einem mehrere Polizeibeamte entgegen. Der Aufgang zu den Gleisen 2 und 3 ist mit rotem Band abgesperrt. Was ist hier nur los?
Auf dem Nachbargleis stehen vereinzelt ein paar wartende Menschen, manche mit großen Rollkoffern. Viele starren auf ihr Handy und scrollen durch die Apps von Bahn oder VVS, andere rufen bei der Firma oder der Familie an. „Hallo Chef, hier sind gerade alle Züge ausgefallen“, sagt ein nervöser auf- und ab laufender Mann mit Aktenkoffer und Bluetooth-Kopfhörern im Ohr, „nein, keine Ahnung, wann ich im Büro bin.“
Die Zugreisenden mussten nach einem Kurzschluss evakuiert werden
In Lautsprecherdurchsagen und auf Anzeigentafeln ist von einer „Reparatur an der Oberleitung“ die Rede. Tatsächlich war es an diesem Donnerstagmorgen hier am Böblinger Bahnhof zu einer Rauchentwicklung gekommen. Wie eine Sprecherin der Bundespolizei mitteilt, wurde die Rauchentwicklung gegen 7.45 Uhr am Donnerstag festgestellt, als die S-Bahn der Linie S1 in Richtung Kirchheim unter Teck an Gleis 3 in den Bahnhof einfuhr. Augenzeugen beschreiben „einen Funkenregen wie an Silvester“. Die Bahn konnte aufgrund des Vorfalls nur bis zur Hälfte ans Gleis einfahren und kam dort zum Stehen. Die Zugreisenden mussten evakuiert werden.
Warum die Oberleitung beschädigt wurde und wie lange die Reparatur dauern wird, weiß an diesem Donnerstagvormittag zunächst niemand. „Ich warte schon seit einer Stunde hier“, sagt eine junge Frau, die um 9.38 Uhr am Gleis 5 steht. „Die nächste Bahn steht um 10.30 Uhr da. Ich wollte den Regionalzug nehmen, aber der fällt auch aus. Jetzt bin ich nicht sicher, ob der nächste um 10.30 Uhr kommt“, sagt sie.
Ein Stück entfernt steht eine Gruppe von Menschen am Bahnhofsvorplatz und schaut suchend auf die Bussteige. „Es soll einen Schienenersatzverkehr geben. Ich guck die ganze Zeit, aber es gibt keine Anzeige, keine Ansage, nix“, schüttelt einer den Kopf. Immerhin: Am Info-Schalter der Bahn gibt es zumindest auf diese Frage eine Antwort: „Schienenersatzverkehr? Am Bussteig 8“, teilt eine Mitarbeiterin mit. Wann die Züge wieder fahren und was genau los ist, weiß sie allerdings auch nicht. „Oberleitung“, sagt sie schulterzuckend, „sonst haben wir da auch keine Infos.“
Um 9.54 Uhr kommt der erste Gelenkbus am Steig 8 an. Eine lange Schlange drängt sich vor dem Schienenersatzverkehr. Plötzlich drehen sich einige in Richtung Bahnhof um. Mit kreischenden Bremsen fährt eine Bahn aus Richtung Stuttgart ein. Ein Mann Mitte 30 sprintet vom Bussteig los und ruft über die Gleise in Richtung einiger Bahnmitarbeiter in Warnwesten. „Fährt der nach Herrenberg? Können Sie dem sagen, dass er auf mich warten soll?“, schreit er und rennt weiter zur Unterführung.
Böblinger Eisenbahnfan kommt extra wegen der Störung zum Bahnhof
Kurz darauf trifft an Gleis 1 auch die Schönbuchbahn in Richtung Dettenhausen ein. Der Zug nach Herrenberg wartet dann tatsächlich einige Zeit, bis sämtliche Fahrgäste eingestiegen sind und fährt schließlich los. Eine Frau, die eigentlich auch nach Herrenberg wollte, läuft mit hastigen Schritten zur Unterführung hinunter. „Ich wollte mit der Bahn nach Herrenberg, aber wegen der Störung ist jetzt extra mein Mann hergefahren, um mich abzuholen. Wirklich ärgerlich“, sagt sie.
Ein Stück weiter unten auf dem Bahnsteig scheint sich ein Mann mit rotem Märklin-Kapuzenpulli und Spiegelreflexkamera sehr für den havarierten Zug auf dem Nachbargleis zu interessieren. Es ist Wolfgang Zöpf, Eisenbahnfan aus Böblingen. Der 62-Jährige ist erstaunlich gut informiert über die aktuelle Lage. „Der Triebzug hat oben sein Schleifstück vom Oberleitungsbügel verloren“, erklärt er fachkundig. Dadurch sei es zu einem Kurzschluss gekommen. „Das passiert selten, aber es kann eben schon mal vorkommen“, meint Zöpf, der nach eigenen Angaben „schon immer“ ein Fan der Bahn ist – trotz aller Kritik, die auch er an dem Unternehmen habe. „Bahnfahren ist eben das letzte Abenteuer in Deutschland“, sagt er augenzwinkernd.
In einer WhatsApp-Gruppe befreundeter Bahnfans habe er von dem Vorfall erfahren und sei eigens deswegen zum Bahnhof gekommen. „Ich habe Urlaub“, sagt er mit einem Grinsen. Demnächst sollte die Abschlepplok aus Plochingen kommen, um den nicht mehr fahrbereiten Zug in den Betriebshof zu bringen. „Das will ich noch mitnehmen“, sagt er und streicht über seine Kamera.
„Das dürfte tatsächlich wie an Silvester ausgesehen haben. Da sind 15 KV drauf, das tut dann g’schwind einen Donnerschlag“, beschreibt er, was die Fahrgäste am Morgen wohl erlebt haben dürften. Gefährlich sei das aber nicht. „Die Oberleitung ist ja nicht abgerissen, Und selbst wenn das passiert wäre, ist so ein Zug wie ein Faradayscher Käfig“, erklärt er.
Die Bundespolizei bestätigt, dass nach bisherigem Kenntnisstand niemand bei dem Vorfall verletzt wurde. Die Reparatur der Oberleitung und die Sperrung der betroffenen Gleise dauerte auch am Donnerstagnachmittag noch an. Der Bahnhof Böblingen war für die Linie S1 nicht anfahrbar, weswegen sie bis auf Weiteres zwischen Kirchheim/Teck und Stuttgart-Vaihingen verkehrte. Auch die Zwischentakte zwischen Stuttgart-Vaihingen und Herrenberg entfielen. Die S60 konnte dagegen schon am Vormittag wieder regulär zwischen Böblingen und Sindelfingen fahren. Zwischen Vaihingen und Herrenberg war ein Schienenersatzverkehr mit Bussen im Einsatz.
Weitere Informationen lagen zum Redaktionsschluss noch nicht vor.
Unter Strom
Hertzenssache
Auf Deutschlands Bahnstrecken fahren seit über 100 Jahren elektrische Züge – allerdings nicht mit Strom, wie er aus der Steckdose kommt. Die Züge benötigen eine Frequenz von 16,7 Hertz, während das öffentliche Stromnetz mit 50 Hertz betrieben wird. Eine Besonderheit im Bahnbetrieb ist die Rückspeisung der Bremsenergie ins Bahnstromnetz.
Oberleitung
Elektrische Züge entnehmen den Strom über einen Stromabnehmer aus der Oberleitung. Etwa alle 50 Kilometer wird dafür an einem sogenannten Unterwerk der Strom mit einer Spannung von 110 Kilovolt von der Bahnstromleitung transformiert und mit 15 Kilovolt in die Oberleitung eingespeist, um den Energiebedarf der Züge zu decken.