Nur ein Symbolfoto, bereits im Winter aber für viele Menschen auch im Rems-Murr-Kreis eine Realität: Die Energiekosten bringen Geringverdiener in Notlagen. Foto: imago/photothek/Thomas Trutschel/photothek.net

Sprunghaft in die Höhe schießende Energiekosten lösen bei Sozialträgern im Rems-Murr-Kreis große Besorgnis aus: Menschen mit geringem Einkommen werden besonders hart getroffen.

Das Schreiben des Energieversorgers hätte Martina Beyrich in der Flut der Behördenbriefe beinahe übersehen. Schließlich landet fast täglich Post vom Jobcenter des Rems-Murr-Kreises in ihrem Briefkasten. Die stapelt sich mit Schreiben vom Sozialamt, Depeschen von der Arbeitsagentur, Briefen vom Ausbildungsbetrieb der halbwüchsigen Tochter und Mahnungen vom Vermieter auf dem Küchentisch. Und deshalb wäre der alleinerziehenden Mutter von vier Kindern der vom Stromanbieter verschickte Bescheid über die ins Haus stehende Nachzahlung fast nicht ins Auge gefallen.

Für die Strom-Nachzahlung ist schlichtweg kein Geld mehr übrig

Dabei könnte der in nüchternem Ton abgefasste Infobrief über die deutlich erhöhten Energiekosten ungeahnte Sprengkraft entfalten. Denn in Rechnung stellt der Stromversorger der Frau aus dem Rems-Murr-Kreis einen Zusatzbetrag von satten 400 Euro – und stürzt Martina Beyrich (Name geändert) mit der Forderung in eine echte Existenzkrise.

Denn das zusätzliche Geld für den Strom hat Martina Beyrich weder auf dem Girokonto noch unterm Kopfkissen. Sie muss schon für die Butter mehr bezahlen, fürs Brot und fürs Gemüse. Da bleibt von den 459 Euro, die sie vom Staat als Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, kein Cent mehr übrig. Das letzte Mal im Urlaub war Martina Beyrich übrigens im Jahr 2014 – und auch das nur, weil sie eingeladen war. Über die gut gemeinten Ratschläge aus der Politik, doch bitte rechtzeitig Geld auf die hohe Kante zu legen, um sich ein finanzielles Polster für die steigenden Energiekosten zu schaffen, kann die Frau nur müde lächeln. „Ich habe Existenzangst. Entweder leihe ich mir das Geld von Freunden und Bekannten oder ich muss tatsächlich betteln gehen“, antwortet sie auf die Frage, wie sie die Extrakosten für den Strom denn bezahlen will.

Die Erlacher Höhe warnt vor sozialen Notlagen im Winter

So wie Martina Beyrich geht es auch im Rems-Murr-Kreis immer mehr Menschen. Noch ist es sommerlich warm, doch der Beginn der winterlichen Heizperiode rückt unaufhaltsam näher. Weil Gaspreis und Stromkosten rasant in die Höhe schießen, sprechen Fachleute wie Wolfgang Sartorius längst über Energiearmut und ihre Folgen. Für Menschen mit geringem Einkommen bedeuten die erhöhten Ausgaben nämlich den Verzicht auf elementare Bedürfnisse. „Es darf nicht sein, dass man nur noch vor der Wahl steht, entweder seine Wohnung heizen zu können oder etwas im Kühlschrank zu haben“, sagt der Vorstand der Erlacher Höhe.

Nun kennt man seit Jahren das Problem, dass es auch in einem vermeintlich wohlhabenden Landstrich genügend Menschen gibt, bei denen das Geld hinten und vorne nicht reicht. Neben Sozialhilfeempfängern waren vor allem Menschen mit chronischen Erkrankungen und oft auch Senioren mit einer nur spärlichen Rente die Leidtragenden. Schon vor Corona, Ukraine-Krieg und Energiekrise gab es im Rems-Murr-Kreis Menschen, die im Wintermantel in der kalten Wohnung saßen, weil sie das Thermostat aus Kostengründen nicht aufdrehen wagen.

Sozialkaufhäuser und Tafelläden werden förmlich überrannt

Neu ist, dass die finanzielle Schieflage spätestens im kommenden Winter zu einem Massenphänomen wird – und auch Leute trifft, die am Monatsende bisher trotz eines vergleichsweise kleinen Gehalts noch ein paar Euro zur Seite legen konnten. Frank Bottalico ist so ein Beispiel, dass es mittlerweile auch Geringverdiener kaum noch schaffen, finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen. Gut 50 Euro pro Monat, berichtet der bei der Erlacher Höhe über eine Fördermaßnahme beschäftigte Helfer, habe er dank seines sparsamen Lebenswandels bisher durchaus ansparen können. Fleisch etwa kommt bei dem 50-Jährigen allenfalls am Wochenende auf den Tisch, vor dem Einkauf studiert der ursprünglich aus dem Ruhrgebiet stammende Bottalico ausführlich die Sonderangebote diverser Discounter.

„Ich habe keine großen Ansprüche“, sagt er über sein persönliches Konsumverhalten – und muss dennoch mit der Erkenntnis leben, dass die Zeiten, in denen vom Gehalt ein wenig Geld übrig blieb, auch für ihn vorbei sind. Dass Inflation und steigende Energiekosten gerade die einkommensschwachen Schichten besonders hart treffen, ist für Michael Belz kein Geheimnis. „Wo sollen es sich die Leute denn auch rausschneiden?“, fragt der Leiter der Abteilung Ambulante Hilfen im Rems-Murr-Kreis. Schon seit geraumer Zeit würden nicht nur die Tafelläden, sondern auch Sozialkaufhäuser wie das „Strandgut“ der Erlacher Höhe in Schorndorf von der Kundschaft förmlich überrannt. „Es geht nicht mehr nur um Lebensmittel, wir merken es auch bei der Kleidung“, sagt Belz.

Der Sozialträger schließt sich deshalb vorbehaltlos der Forderung der Diakonie an: Ohne erhöhte Sozialhilfen werde es mit dem Beginn der Heizperiode zu einem besorgniserregenden Anstieg menschlicher Notlagen kommen. „Der Regelsatz für den laufenden Lebensunterhalt muss um mindestens 100 Euro im Monat erhöht werden“, stellt Wolfgang Sartorius klar – und weist genüsslich darauf hin, dass der weitgehend wirkungslos verpuffte Tankstellenrabatt fast ähnlich hohe Summen verschlungen hat wie die jetzt geforderte Erhöhung der Hartz-IV-Sätze. Ohnehin sieht die Erlacher Höhe die Berliner Hilfspakete kritisch. „Wenn Gelder nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden, kommt nur ein Bruchteil auch bei den Menschen an, die auf diese Hilfe wirklich angewiesen sind“, sagt Wolfgang Sartorius. Martina Beyrich und Frank Bottalico werden da zustimmen.