Ein symbolischer Akt: Der ungarische Außenminister Gyula Horn (rechts) und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock (links) durchtrennen am 27. Juni 1989 ein Stück des „Eisernen Vorhangs“ zwischen Ungarn und Österreich bei Klingenbach. Foto: dpa

Vor 25 Jahren änderte sich die Welt. In den damaligen Ostblock- Staaten nahm der Wunsch nach Freiheit vor der Bevormundung durch die Sowjets Gestalt an.

Vor 25 Jahren änderte sich die Welt. In den damaligen Ostblock- Staaten nahm der Wunsch nach Freiheit vor der Bevormundung durch die Sowjets Gestalt an.

Warschau - Im Juni 1989 beginnt in der DDR die Urlaubszeit, wie auch in den 39 Sommern zuvor. Zehntausende zieht es alljährlich nach Ungarn, an den Plattensee. Der Balaton ist so etwas wie das Mallorca der Ostdeutschen. Und doch ist in diesem Juni 1989 alles anders als in den 39 Sommern seit der Republikgründung. Michail Gorbatschow setzt in der Sowjetunion auf Perestroika und Glasnost. Durch den Ostblock weht ein Wind des Wandels. Die Polen schreiten voran und halten am 4. Juni eine zumindest teilweise freie Wahl ab.

In der DDR dagegen herrscht weiter „ein Gefühl des Eingesperrtseins, das zur Atemnot führt“. So formuliert es der Wittenberger Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, der im Frühsommer 1989 der Verzweiflung nah ist. Am 7. Mai hat das SED-Regime die Kommunalwahlen fälschen lassen. Erstmals regt sich zaghafter Protest im Land. Doch während sich Polen, Ungarn und die Völker der UdSSR vom Virus der Freiheit anstecken lassen, bricht in der DDR eine andere Epidemie aus. „Der Bazillus des Weggehens“ habe „ganze Familien und Gruppen erfasst“, erklärt Schorlemmer später.

Der Theologe kann die „entsetzliche Zerreißprobe“ der Menschen zwischen Bleiben und Gehen, zwischen Kampf und Flucht nachempfinden. Er selbst bleibt und kämpft. In Ungarn jedoch spüren die DDR-Urlauber den Wind des Wandels hautnah. Schon am 2. Mai hat die Regierung in Budapest angeordnet, die Sperranlagen an der Grenze zu Österreich zu demontieren. Einzelne Ostdeutsche suchen sofort „das Loch in der schwarzen Wand“, wie eine junge Frau im Westfernsehen erklärt, als sie noch im Frühjahr nach Österreich flieht. „Ich fühle mich wie von einer Schlinge befreit. Die drüben haben von unserer Angst gelebt.“

Im Juni 1989 lebt die DDR-Führung um Erich Honecker zunächst weiter von dieser Angst. Am 4. Juni, als die Polen die Solidarnosc und damit die Freiheit wählen, lässt die KP in China die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens von Panzern niederwalzen. Honecker äußerst sich zufrieden über diese „Niederschlagung einer Konterrevolution“ – eine offene Kampfansage an die Menschen im eigenen Land. Am 7. Juni löst die Staatssicherheit in Ost-Berlin eine Demonstration gegen die Fälschungen bei der Kommunalwahl gewaltsam auf.

Doch aus dem Osten, aus Moskau, Warschau und Budapest weht der Wind der Freiheit immer kräftiger herüber. Die ungarischen „Gulaschkommunisten“ verhandeln seit dem 13. Juni nach polnischem Vorbild mit der Opposition an einem Runden Tisch über den friedlichen Machtwechsel. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden. Schon 1988 war der „ewige“ Partei- und Regierungschef János Kádár nach 30 Jahren an der Macht abgesetzt worden. Der Reformpolitiker Imre Poszgay prescht im Winter voran und erklärt den Volksaufstand von 1956, der jahrzehntelang als Konterrevolution galt, zum Freiheitskampf. Wenig später verzichtet die KP auf ihren verfassungsmäßig garantierten Führungsanspruch.

An der Grenze zu Österreich hebt sich der Eiserne Vorhang – allerdings aus eher pragmatischen und teils grotesken Gründen. Der elektrische Stacheldraht mit seinem sowjetischen Signalsystem SZ-100 verwittert, rostet und gibt immer öfter Fehlwarnungen. Feldtiere und Vögel lösen durchschnittlich zehn Mal pro Tag falschen Alarm aus. Wenn doch einmal Flüchtlinge ertappt werden, sind es nie Ungarn, denn die dürfen bereits seit 1988 frei ausreisen. Die Wachoffiziere beschweren sich in Budapest über die zunehmend sinnlose Arbeit – und so beginnen die Grenzer im Mai damit, den Stacheldraht still und leise einzurollen.

Am 27. Juni ist dann jedoch plötzlich alles anders, alles öffentlich, alles grell. Die Außenminister der Nachbarländer Ungarn und Österreich, Gyula Horn und Alois Mock, machen sich auf den Weg zur Grenze, um ein Zeichen zu setzen. Es ist ein Fototermin, wie ihn Politiker lieben. Mit gewaltigen Metallscheren stellen sich die Minister in Anzug und Krawatte vor den Zaun und durchtrennen den Stacheldraht. Der ungarische Premier Miklós Németh erzählt später, er habe Horn augenzwinkernd geraten, sich zu beeilen: „Gyula, mach’s schnell, es ist kaum noch Draht da!“

Es stimmt: Faktisch passiert an diesem 27. Juni wenig. Doch die Bilder gehen um die Welt und senden eine historische Botschaft aus. Der Eiserne Vorhang öffnet sich! Bundeskanzler Helmut Kohl wird später sagen, die Ungarn und die Österreicher hätten an diesem Tag symbolisch den ersten Stein aus der Berliner Mauer geschlagen. In Polen sieht man das anders. Es sei die Solidarnosc gewesen, die im Frühjahr 1989 das Fundament der Mauer gesprengt habe.

25 Jahre danach, am 4. Juni 2014, sagt US-Präsident Barack Obama in Warschau: „Das Ende des Kommunismus begann hier.“ Treffender beschreibt es womöglich der polnische Präsident Bronislaw Komorowski: „Wir haben den ersten Dominostein umgestoßen.“ Tatsächlich setzt im Sommer 1989 eine Kettenreaktion ein. Gorbatschow legt am 7. Juli die Breschnew-Doktrin zu den Akten. Die Staaten des Warschauer Paktes dürfen ab sofort souverän über ihre Entwicklung entscheiden.

Ungarn und Polen tun das längst. Honecker jedoch steuert einen Gegenkurs. Die Mauer werde „noch in 50 oder 100 Jahren stehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind“, sagt er im Januar 1989. Am 7. Oktober erklärt er am 40. Jahrestag der DDR-Gründung: „Ratschläge, die zur Schwächung des Sozialismus führen sollen, fruchten bei uns nicht.“ Doch zu diesem Zeitpunkt sind vor dem DDR-Sozialismus bereits so viele Menschen geflohen, dass er schließlich wie ein Kartenhaus zusammenbricht.

Nach dem Scherenschnitt an der österreichisch-ungarischen Grenze suchen dort immer mehr DDR-Bürger nach einem „Loch in der Wand“. Als die Sperranlagen fast vollständig abgebaut sind, treffen sich Österreicher und Ungarn am 27. August im grenznahen Sopron zu einem „Paneuropäischen Picknick“. Sie wollen den Sommer der Freiheit feiern. Am Ende fällt ein weiterer Dominostein. Hunderte Deutsche aus der DDR reisen zum Picknick an. Als sie wieder gehen, gehen sie nach Westen, durch Wälder, über Felder und Wiesen. Niemand hält sie mehr auf.

Das Picknick in Sopron wird zum Fanal der Massenflucht. Im Spätsommer 1989 halten sich rund 150 000 DDR-Bürger in Ungarn auf. Von Tag zu Tag flüchten mehr Menschen nach Westen. Allein in der Woche zwischen dem 11. und 18. September reisen 20 000 Ostdeutsche über Österreich in die Bundesrepublik aus. Fast zeitgleich gelingt es rund 4000 DDR-Bürgern, in Prag auf das Botschaftsgelände der BRD vorzudringen. Als Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September dort die Lösung der Flüchtlingsfrage verkündet, fällt ein weiterer Dominostein. „Liebe Landsleute“, sagt der Minister und erklärt: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . .“ Genschers weitere Worte gehen im ekstatischen Jubel der Botschaftsflüchtlinge unter.