Nebenwirkung der Pandemie – viele Kinder und Jugendliche haben zu wenig Bewegung. Foto: dpa/Tobias Hase

Für Elke Häußermann ist die Aufhebung der Impfpriorisierung in Arztpraxen ein überfälliger Schritt. Die Kinder- und Jugendärztin fordert, den Fokus beim Impfen stärker auf die Jüngeren zu richten.

Stuttgart/Gerlingen - 30 Dosen Biontech, das ist die Tagesdosis, die Elke Häußermann und ihr Praxisteam an diesem Freitag verimpften – parallel zur üblichen Patientenversorgung. Die Patienten von Elke Häußermann sind jung. Die 56-Jährige aus Gerlingen ist Kinder-und Jugendärztin. Seit drei Wochen beteiligt sie sich mit ihrer Praxis an der Impfkampagne – aus Verantwortung heraus, denn verdient ist damit wenig. Der Organisations- und Verwaltungsaufwand dagegen ist beträchtlich.

Seit Mittwoch, als die Nachricht von der Aufhebung der Impfpriorisierung in Praxen unvermittelt die Runde machte, hat der Aufwand noch zugenommen. „Wir werden überrannt. Jetzt rufen noch viel mehr Leute an und fragen nach Impfterminen“, erzählt sie. Das kann sie gut verstehen. Weniger Verständnis hat sie für die Art der Kommunikation durch die Politik. „Wir Ärzte wurden von der Aufhebung der Priorisierung überrascht.“ Da kommt schon mal das Gefühl auf, nur „Handlanger“ zu sein.

„Manche Kinder haben bis zu 20 Kilo zugenommen“

Bisher hat Elke Häußermann chronisch kranke Jugendliche geimpft, oft auch Angehörige oder die Eltern von Patienten. Von Montag an, wenn die Priorisierung in Arztpraxen fällt, will sie Jugendliche ab 16 „möglichst großzügig impfen“ – sofern genügend Impfstoff bereitsteht. „Das wird höchste Zeit“, sagt die erfahrene Kinder- und Jugendärztin. Sie ist der Meinung, dass Kindern und Jugendlichen deutlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist.

Denn die Nebenwirkungen der Pandemie bei Jüngeren sind aus Sicht Häußermanns erheblich. „Es gibt Kinder, die sitzen nur noch vor dem Handy und machen kaum noch Sport“, berichtet sie. Psychische Auffälligkeiten haben nach ihrer Beobachtung in den vergangenen Monaten stark zugenommen. Auch körperliche Probleme - Haltungsschäden etwa. „Manche Kinder haben im letzten Jahr bis zu 20 Kilo zugelegt.“ Elke Häußermann ist sicher: „Die Folgen werden uns Kinder- und Jugendärzte noch lange beschäftigen.“

Vor allem auch in sozialer Hinsicht. „Die Schere geht eindeutig auseinander“, meint die Ärztin. Das ist offensichtlich auch eine Bildungsfrage. Wenn sie versucht, weniger zugängliche Familien von der Sinnhaftigkeit der Corona-Impfung zu überzeugen, bekommt sie zu hören: „Wir sind doch keine Versuchskaninchen!“ Die Ängste seien vor allem durch die wechselnden Empfehlungen und negativen Berichte rund um den Astrazeneca-Impfstoff verursacht, vermutet sie Hier sei noch viel Aufklärungsarbeit notwendig.

Skepsis über politische Ankündigungen

Wenn es nach der Gerlinger Ärztin ginge, dann müsste der Fokus beim Impfen insgesamt viel stärker auf die Jüngeren gerichtet werden. Diese Erkenntnis scheint auch in der Politik zu greifen. Baden-Württembergs neue Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) etwa drängt auf eine „zeitnahe“ Impfung von Jugendlichen und forderte unbürokratische, praktische Lösungen „als Signal an die Jugend“. Elke Häußermann hält das für wünschenswert. Vollmundige Ankündigungen aus der Politik sieht sie jedoch kritisch, „denn die Rahmenbedingungen dafür gibt es noch nicht“. Auch keinen genauen Zeitplan. Noch stehe die Zulassung des Biontech-Impfstoffs für 12- bis 15-Jährige durch die europäische Arzneimittelbehörde EMA und eine Empfehlung durch die Ständige Impfkommission aus. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte dafür den Juni genannt. Bis Ende August, so Spahn, sollten alle Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren ein Impfangebot erhalten.

Hinter der Impfung von Schülern stehen noch viele Fragezeichen

Konkret planen kann Elke Häußermann mit solchen vagen Aussagen nicht. Unklar ist für sie auch, wie die Impfung in den Sommerferien organisiert werden soll, wenn etliche Praxen geschlossen hätten und Familien verreist seien. Dass die Kinder- und Jugendärzte hier eine wichtige Rolle spielen, hat der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte dieser Tage klar gemacht: „Wir Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen tragen entscheidend dazu bei, dass die Impfkampagne bei den Jugendlichen und später bei den Kindern rundläuft“. Elke Häußermann unterschreibt das gerne: „Wenn die Voraussetzungen geklärt sind, können wir viel bewirken.“