Stefan Mappus hat den Kaufpreis von knapp fünf Milliarden Euro stets verteidigt Foto: dpa

Bisher schienen die Rollen im EnBW-Deal klar verteilt: hier die Aufklärer von Grün-Rot, dort die bösen Buben Mappus und Co. Nun aber gerät die ermittelnde Justiz selbst in Erklärungsnot.

Stuttgart/Zürich - Justizminister Rainer Stickelberger gilt als besonnener, sachkundiger, unaufgeregter Politiker. Egal wo der SPD-Mann aus Lörrach auftritt – er hinterlässt einen soliden Eindruck. Nun aber deutet vieles darauf hin, dass es an einer entscheidenden Stelle der baden-württembergischen Justiz ungemütlich werden könnte. Denn bei der Aufklärung des gleichsam milliardenschweren wie umstrittenen EnBW-Deals gerät ein von der Staatsanwaltschaft Stuttgart in Auftrag gegebenes Gutachten beim Münchner Finanzwissenschaftler Wolfgang Ballwieser in den Mittelpunkt des Interesses – und damit der Diskussionen. Die entscheidende Frage: Die Expertise soll mehrere Fehler haben. Aber warum?

Fakt ist: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte das Gutachten im März 2013 bei Ballwieser in Auftrag gegeben. Nach diversen Gutachten zuvor sollte er sozusagen die ultimative, unabhängige Untersuchung liefern und klären, ob bei jenem spektakulären EnBW-Aktiengeschäft vom 6. Dezember 2010 alles mit rechten Dingen zugegangen war. Damals hatte Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unter dem Codewort „Olympia“ dem französischen Energiekonzern EdF den45-Prozent-Anteil an der Energie Baden-Württemberg für knapp fünf Milliarden Euro abgekauft.

Während der Staatsgerichtshof das Geschäft später als verfassungswidrig einstufte (weil es Mappus auf Bitte von EdF-Chef Henri Proglio ohne Landtagsbeteiligung abgewickelt hatte), war die neue Landesregierung vor allem über den Kaufpreis erzürnt. Mappus habe, so Grün-Rot, einen viel zu hohen Preis bezahlt, um kurz vor der Landtagswahl einen politischen Erfolg zu erzielen.

Vor diesem Hintergrund war das Ballwieser-Gutachten, das Anfang Dezember nach monatelanger Wartezeit streng vertraulich bei der Staatsanwaltschaft eintrudelte, für die Regierung wie Wasser auf die Mühlen. Ballwieser, mit seinem Lehrstuhl am Seminar für Rechnungswesen und -prüfung an der Maximilians-Universität eine Koryphäe seiner Zunft, hatte auf 71 Seiten ausgearbeitet, dass der Eigenkapitalwert der EnBW an jenem Stichtag im Dezember 2010 bei 8,4 Milliarden Euro lag, was einem Aktienpreis von 34,58 Euro entsprach. Zur Erinnerung: Mappus hatte einen Stückpreis von 40 Euro zuzüglich 1,50 Euro Dividendenausgleich für 2010 bezahlt. Fazit für Ballwieser: Mappus habe rund 780 Millionen Euro Steuergelder zu viel nach Paris überweisen lassen.

Kein Wunder, dass Finanzminister Nils Schmid (SPD) frohlockte. Der Deal von Mappus sei „von A bis Z ein Skandal“ gewesen, sagte Schmid im Landtag. Nun gebe es „780 Millionen gute Gründe“, um vor dem Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer in Zürich zu viel bezahltes Steuergeld von der EdF zurückzufordern. Wenige Tage vor Prozessbeginn am 20. Januar stellt sich nun freilich die Frage, wie belastbar das Ballwieser-Gutachten ist. Nach Recherchen unserer Zeitung haben zuletzt mehrere Wissenschaftler die Expertise ihres Münchner Kollegen durchgearbeitet und zweifeln an der Systematik. Allein, keiner traut sich an die Öffentlichkeit, weil offenbar das ungeschriebene Gesetz gilt, dass sich Gutachterkollegen nicht angreifen.

Nur einer wagt nun offen die Kritik: Henner Schierenbeck, bisher Professor am wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum der Universität Basel und renommierter Autor eines Standardwerks für Betriebswirtschaftslehre. Er listet in einem Ergänzungsgutachten, das unserer Zeitung vorliegt und das die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit dieser Woche hat, „Fehler und Widersprüche“ in dem Gutachten von Ballwieser auf. Die zentralen Kritikpunkte: Dass Ballwieser den sogenannten Paketzuschlag, der bei solchen Mega-Deals üblich sei, negiert habe, obwohl er sonst in seinen Vorlesungen dafür wirbt, „entbehrt jeder Basis“. Dass Ballwieser mit seiner Festlegung des EnBW-Aktienwerts von 34,58 Euro sogar unter dem damaligen, aktuellen Aktienkurs der EnBW von 35 Euro liege, sei „unbegründet“. Dass Ballwieser einerseits der EnBW vorhalte, bei der Strompreisentwicklung für die nächsten Jahre zu optimistisch geplant zu haben, er aber andererseits bei seiner Unternehmensbewertung (und damit seinem ermittelten Aktienpreis) von einem schlechteren Wert ausgegangen sei, ergebe keinen Sinn: „Niemand konnte am 6. Dezember in die Zukunft schauen“, schreibt Schierenbeck und meint damit die Atomkatastrophe von Fukushima, die wenige Monate nach dem EnBW-Deal im März 2011 den Energiemarkt und damit auch die Preise verändert hatte. „Wäre die Unternehmensleitung der EnBW zum Zeitpunkt 2010 von den Strompreisannahmen Ballwiesers ausgegangen, hätte sie wohl mit Sicherheit im gesamten Konzern anders geplant“, fügt Schierenbeck hinzu.

Besonders hart geht der Experte aus der Schweiz aber vor allem an einer Stelle mit seinem Kollegen Ballwieser ins Gericht – nämlich an jenem Punkt des Gutachtens, in dem Ballwieser eine schwerwiegende Panne unterlaufen sei. Bei der Unternehmensbewertung der EnBW habe Ballwieser zwar Fördergelder für das Atomkraftwerk Philippsburg II in Höhe von jährlich 107 Millionen Euro aufgeführt, sie dann aber nicht eingerechnet. Es handle sich um einen „maßgeblichen Übertragungs- beziehungsweise Rechenfehler“, schreibt Schierenbeck.

Für Wolf Schiller, Verteidiger von Dirk Notheis, einst als Chef der Investmentbank Morgan Stanley der Dreh-und-Angel-Punkt des EnBW-Deals, ist damit der Bogen überspannt. Nicht nur, dass Ballwieser sein Gutachten nach einer einzigen Bewertungsmethode erstellt habe und nicht wie branchenüblich Kontrollrechnungen vorgenommen habe, mache es „einseitig, fehlerhaft und methodisch unzureichend“. Erschwerend komme hinzu, dass „allein der eine Rechenfehler fast eine Milliarde Euro an Wert der EnBW ausmacht“, schrieb Schiller diese Woche in seinem Beschwerdekatalog an die Staatsanwaltschaft. Ohne den Rechenfehler bei den Fördergeldern hätte Ballwieser den EnBW-Aktienwert vier Euro höher festsetzen müssen – also mindestens bei 38,58 Euro.

Damit nicht genug. Auch an anderer Stelle der Unternehmensbewertung stellen sich plötzlich Fragen. Ballwieser ging in seiner Untersuchung von einer Nettoverschuldung der EnBW im Frühjahr 2011 von 9,68 Milliarden Euro aus, für die Ermittlung des Kaufpreises zum EnBW-Deal im Dezember 2010 hatten die Beteiligten aber den aktuellen Wert von 9,42 Milliarden Euro genommen. Die Folge: ein Unterschied von rund 260 Millionen Euro. Oder umgerechnet ein Wert von 1,07 Euro pro Aktie. Ein Betrag also, den Ballwieser laut Schiller ebenfalls hätte einrechnen müssen, womit der Aktienwert bereits auf über 39 Euro geklettert und damit dem von Mappus bezahlten Kaufpreis immer näher gekommen wäre.

Warum aber tat er das nicht? Ballwieser selbst ist derzeit für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Bei der Staatsanwaltschaft hält man sich noch zurück. Ein Sprecher wollte die neuen Entwicklungen „nicht kommentieren“, solange man die Analyse von Schierenbeck und das Papier von Schiller nicht gesichtet habe. Schierenbeck hatte sich schon vor Wochen festgestellt, dass der EnBW-Aktienwert zum Stichtag 6. Dezember 2010 je nach Bewertungsmethode zwischen 40,73 und 67,73 Euro lag. In seinem Gutachten bleibt er dabei und nennt den bezahlten Preis von 41,50 Euro „angemessen“.

Es dürfte also spannend werden in den nächsten Wochen. Nicht nur wegen des anstehenden Prozesses in Zürich und der Frage, ob Mappus womöglich gar nicht zu viel bezahlt hat und die Klage von Grün-Rot zerfällt, sondern auch wegen einer anderen Frage: Wie wird Ballwieser bei seinem geplanten Auftritt vor dem EnBW-Untersuchungsausschuss des Landtags die Ungereimtheiten in seinem Gutachten erklären? Für Anwalt Schiller steht jedenfalls schon fest, dass Ballwiesers Expertise quasi in den Papierkorb gehört.

Diese Unternehmensbewertung, so schrieb er an die Staatsanwaltschaft, „kann nicht zur Grundlage des anhängigen Ermittlungsverfahrens werden“. Soll heißen: Auf Basis dieses Papiers könnten die Ermittler ihren Verdacht der Untreue gegen Notheis und die anderen Beteiligten des EnBW-Deals nicht aufrechterhalten, geschweige denn Anklage erheben. Denn, so Schiller giftig: „Der Sachverständige Ballwieser war laut Staatsanwaltschaft gehalten, die für die Beschuldigten günstigsten Bewertungsmaßstäbe heranzuziehen.“ Es dränge sich aber „der Eindruck nachhaltig auf, dass Herr Ballwieser von den jeweils ungünstigsten Parametern ausgegangen ist und so zu einem völlig unrealistischen Unternehmenswert gelangt ist.“ War es so? Wenn ja, warum? Ein Rätsel. Die Justiz von Minister Stickelberger ist gefordert.