Ein Virtuose am Ball: Italiens Mittelfeldlenker Andrea Pirlo (links) lupft die Kugel beim Elfmeterschießen gegen England in die Mitte des Tores – Keeper Joe Hart bleibt nur das Nachsehen. Foto: dpa

Will deutsche Elf Halbfinale gewinnen, muss sie Italiens Offensive stoppen – Pirlo als Trumpfkarte.

Stuttgart - Abgezockt waren sie schon immer, die Italiener. Clever, manchmal bis an den Rand der Legalität. Wohl kaum ein Team weiß das so gut wie das deutsche – noch nie hat das Nationalteam bei einem großen Turnier gegen die Azzurri gewonnen. Jetzt kommt es wieder zum direkten Duell. An diesem Donnerstag steigt das Halbfinale in Warschau (20.45 Uhr/ARD) – und davor drängen sich Fragen auf: Was zeichnet die Italiener aus? Gibt es Parallelen zu den früheren Duellen mit den Deutschen? Und vor allem: Wie sind sie überhaupt zu schlagen?

Die Taktik: Es gibt ein paar gängige Klischees. Italiener mauern, rühren Beton an, pflegen ihren Catenaccio. Stehen hinten sicher und kompakt, und vorne hilft der liebe Gott. Tatsächlich ist es wohl nicht von der Hand zu weisen, dass die Azzurri verdammt gut sind, wenn es ums Verteidigen geht. Verschieben, doppeln, pressen – diese Begriffe saugt man in Italien wohl schon mit der Muttermilch auf. Auch das jetzige Team hat in der Defensive alles drauf, was man draufhaben muss im modernen Fußball. Und obendrein steht hinter der Abwehr noch der Weltklasse-Torhüter Gianluigi Buffon.

„Das Klischee mit dem Mauern stimmt ja so eigentlich nicht“

Bei genauerem Betrachten aber hatten die großen italienischen Teams vor allem schon immer eines: Eine Riesenqualität in der Offensive. „Das Klischee mit dem Mauern stimmt ja so eigentlich nicht“, sagt der ehemalige deutsche Nationalspieler Maurizio Gaudino (45). „Es war ja schon bei den vergangenen Turnieren eher so, dass die Italiener ihr Spiel durchgezogen haben, einen klaren Plan hatten und nach vorne verdammt gut waren. Die Balance zwischen Defensive und Offensive hat sie ausgezeichnet. Hinten sicher, vorne gefährlich, das ist ihr Spiel.“

Die Deutschen bekamen das schon oft zu spüren. 1970 etwa, als es im Jahrhundertspiel, dem WM-Halbfinale von Mexiko, vier Gegentore gab. 1982, als das deutsche Team den Italienern beim 1:3 im WM-Finale hoffnungslos unterlegen war – weil Paolo Rossi und Kollegen ein Offensivfeuerwerk abbrannten, dem die Nationalelf um Paul Breitner nicht gewachsen war. Oder im WM-Halbfinale 2006, als Italien beim 2:0 nach Verlängerung sicher in der Defensive stand und in der Offensive besser war.

Auch jetzt, 2012, ist genau jenes Phänomen wieder zu beobachten: Italien steht hinten sicher und kompakt – und ist in der Offensive brandgefährlich, drängt die Gegner in die eigene Hälfte. Das ganze Team verschiebt in dieselbe Richtung. Die Organisation ist perfekt. Der Zusammenhalt, der kollektive Offensivdrang, er ist fast zu greifen. Von wegen Catenaccio – die Azzurri spielen mit einem Schuss Genialität. Bella Italia!

Spielmacher Andrea Pirlo ist der Dreh-und-Angel-Punkt

Die Marschroute: Trainer Cesare Prandelli ist ein Verfechter des Angriffsfußballs, was schon in der Vorrunde zu beobachten war. In vielen Situationen stellte er in der Abwehr auf eine Dreierkette um, um das Mittelfeld zu verstärken und Überzahl zu schaffen. „Die Italiener laufen, was das Zeug hält, pressen, wollen den Gegner in den ersten 60, 70 Minuten müde spielen“, sagt Gaudino. Gegen England klappte das im Viertelfinale vorzüglich – Gaudino empfiehlt dem deutschen Team fürs Halbfinale, die Italiener mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen: „Sie haben die Verlängerung gegen England in den Knochen. Deutschland muss es schaffen, die Azzurri durch viel Bewegung und Tempofußball müde zu spielen. Jogi Löw hat ja die passenden Spieler dafür. Gleichzeitig aber musst du gegen Italien immer kompakt stehen, du darfst ihnen im Mittelfeld keine Räume geben.“ Italien sei nicht Griechenland. Fehler und Ballverluste werden sofort durch überfallartige Angriffe bestraft. Weil besonders ein Mann auf sie lauert.

Der Kopf des Teams: Spielmacher Andrea Pirlo ist der Dreh-und-Angel-Punkt. Und vielleicht so etwas wie das Symbol für die Abgezocktheit der Italiener. Wer im Viertelfinale bei einem Elfmeterschießen den Ball so locker-leicht ins Tor lupft wie Pirlo gegen England, hat entweder einen Sprung in der Schüssel – oder er hat in jeder Sekunde einen Plan von dem, was er tut. Pirlo sagt: „Ich sah, wie sich der Torwart zu früh bewegte. Dann habe ich mich entschieden, genau so zu schießen – das war leichter für mich.“

So wie der Virtuose von Juventus Turin Elfmeter schießt, so gestaltet er meist auch das Spiel seines Teams. Mit klarem Plan, immer mit einem Schuss Genialität. Und vor allem: Mit dem Gespür für die richtige Lösung. „Er versucht immer das Offensivspiel anzukurbeln und den Ball nach vorne zu passen, scharf in die Schnittstellen, auch in größter Bedrängnis. Das kann er wie kein Zweiter“, sagt Maurizio Gaudino. Vorne lauern dann die beiden Stürmer Mario Balotelli und Antonio Cassano auf die Kugel – auch sie sind brandgefährlich. „Italien hat eine hochwertige Offensive, auch die beiden Angreifer können in diesem Team immer den Unterschied ausmachen“, sagt Gaudino.

Die integrierten Diven: Cassano und Balotelli sind Skandalnudeln. Profis, die man eigentlich nur schwer in einem Team integrieren kann. Störenfriede. Balotelli gilt als verwöhnter, pubertierender Bengel. Cassano steht dem in nichts nach. Jetzt, bei der EM, sollen sie die Italiener zum Titel schießen. Und kaum einer zweifelt im Lager der Azzurri daran, dass das funktionieren könnte. Was einen einfachen Grund hat: Der Rest des Teams ist ein verschworener Haufen. „Die Jungs schaffen es, die beiden Diven einzugliedern, sie auf Fehler aufmerksam zu machen“, sagt Maurizio Gaudino und fügt an: „Das geht nur, weil der Zusammenhalt im Team so groß ist. Das Team ist nach dem ganzen Gerede um die Manipulationsskandale vor dem Turnier nur noch mehr zusammengerückt. Jetzt erst recht, sagen sie sich.“ Wir gegen den Rest der Welt, das ist die Devise der Italiener. Auf ins Finale. Nur Deutschland kann die Squadra Azzurra noch stoppen.