Auch beim Klassiker – dem Streit um die Schaufel – müssen Eltern nicht immer sofort eingreifen. Foto: zabavna - stock.adobe.com/Larisa Kapustkina

Eine Mutter fragt, ob sie Ihrem Sohn (4) bei Auseinandersetzungen auf dem Spielplatz beistehen soll. Sabine König, die Eltern in ihrer Praxis bei Erziehungsfragen begleitet, gibt Rat.

Der Vierjährige gibt auf. Das ältere Mädchen lässt ihn auf dem Spielplatz nicht mitspielen, also sucht er sich einen anderen Ort zum Spielen. Doch auch das passt der anderen nicht. Sie kommt hinterher, will den Kleinen verscheuchen und dann fällt der Satz: „Wenn Du da nicht weggehst, bohre ich einen Stock durch dich durch.“ Die Mutter des Kleinen ist entsetzt und scheucht das Mädchen weg. Hinterher fragt sie sich, hat sie richtig reagiert? Hätte ihr Sohn sich besser selber gewehrt? Sabine König von der Praxis für Erziehungs- und Beziehungsfragen erklärt, wann Eltern in solchen Situation besser nicht eingreifen.

 

Frau König, wie hätten Sie in einer solchen Situation reagiert?

Sabine König An dem Verhalten irritiert mich eine Menge. Erst einmal, dass das Mädchen so ein starkes Bild im Kopf hat. Sie muss eine Idee davon haben: Mit einem Stock durchbohren – das ist nicht gut. Aber das ist ein Grundschulkind. Da wäre meine erste Reaktion zusagen. „Wie kommst Du denn auf diese Idee?“ Ich würde also versuchen, ganz anders mit ihr Kontakt aufzunehmen. Und damit würde die Situation schon einmal in eine ganz andere Richtung gehen. Der zweite Punkt wäre – und damit stelle ich mich auch schützend vor mein Kind, dass ich sage: „Das ist aber eine blöde Idee. Wie kommst Du darauf? Wo hast Du das überhaupt her?“

Das andere ist: Der Kleinere hatte ja den Wirkungsbereich der Älteren verlassen. Was für einen Anlass hatte sie, da noch einmal hinterherzukommen. Da wäre eine Frage denkbar wie: „Ihr spielt doch da drüben? Sag mal, was willst Du hier?“ Auch dann stehe ich schon wieder vor meinem Kind. Was mich aber am meisten irritiert, ist, dass die Kleine das sagt im Beisein eines Erwachsenen. Das ist ein Thema, das wir heute häufiger haben. Dass die Kinder nicht mehr differenzieren, wer hört mit.

Hätte man abwarten sollen, ob sich das kleinere Kind selbst wehrt?

Das hängt sehr von der Situation ab und davon, ob die beiden auf einer Ebene sind: Das meine ich räumlich: Ein Kind sitzt, eines steht. Es geht aber auch um Entwicklung, Alter, Charakter, Temperament oder der Persönlichkeit. Ein weiterer Punkt wäre: Kennen sich die Kinder. Haben die Kinder miteinander zu tun? Kennen sie sich aus der Krippe? Sind es Geschwister? Kennen sie sich, wissen sie sich einzuschätzen, haben sie eine miteinander verhandelte Hierarchie.

Was spielt diese Hierarchie für eine Rolle?

Es ist tatsächlich so, dass Kinder untereinander hierarchisch denken und handeln. Das geht dann in die Richtung: „Du darfst mitspielen“ oder „Du hast eine besondere Rolle beim Spielen“ oder „Ich sage hier, wo es langgeht“. Da sollten wir Erwachsene uns nicht zu sehr einmischen. Denn unsere Kinder handeln auch in erwachsenenfreien Räumen und müssen sich dort Handwerkszeug für den Umgang miteinander erarbeiten. Die Gleichaltrigen bilden die Gruppe, in der unsere Kinder vieles lernen: Sozialverhalten, Impulssteuerung, Frustrationstoleranz.

Also sollte ich mich doch erst einmal raushalten?

Wenn ich als Mutter oder Vater mein Kind schütze oder aber bei Problemen unterstütze, ist das erst einmal komplett okay. Gleichzeitig nehme ich ihm aber die Möglichkeit, zu wachsen, auf eigene Lösungsideen zu kommen, etwas auszuhalten, der Verlierer zu sein. Da ist eine ungeheure Bandbreite drin. Wenn ich mein Kind immer nur in Watte packe, laufe ich Gefahr, es fürs Leben nicht ausreichend zu rüsten.

Das ist aber im Eifer des Gefechts schwer abzuwägen, oder?

Als Erwachsener ist es wichtig, dass ich ein Gefühl dafür entwickele, wann ich einschreiten muss. Wenn die Kinder gleichgroß sind, dann kann ich ohne Weiteres auch einmal einer „Klopperei“ zugucken. Es muss aber für mich erkennbar sein, dass es aufhört, wenn ein Kind „Nein“ ruft oder in die Unterlegenheit kommt. Wenn es dann nicht aufhört, dann stehe ich bereit, um dem handelnden Kind zu signalisieren. „Jetzt ist gut, es hat ‚Nein‘ gesagt, es hat ‚Stopp‘ gesagt. Es will nicht mehr. Das ist zu viel.“ Das darf ich auch gegenüber einem fremden Kind sagen. Es ist sogar häufig so, dass Kinder von fremden Erwachsenen eher einen Hinweis annehmen als von den eigenen Eltern.

Gerade bei ganz kleinen Kindern kann das aber schon schwierig sein, sich entspannt zurückzulehnen, wenn die „Fetzen fliegen“.

Die Grundidee wäre, den Konflikt zu begleiten. Also erst mal schauen: Kriegen die das gebacken? Man sieht das ganz viel bei Kleinstkindern unter zwei Jahren. Die sitzen nebeneinander im Sandkasten, hauen sich mal die Schaufel über den Kopf. Aber derjenige, der die Schaufel abkriegt, der guckt nur. Oder wenn der andere sein Förmchen nimmt, dann sagt es sich: „Huch, wo ist das jetzt hin?“ Und nimmt sich ein anderes. Die Kinder sind damit beschäftigt, nebeneinander zu agieren und fixiert auf Dinge und Materialien. Und häufig sind wir da zu schnell in Aktion. Zu schnell am Schimpfen, zu schnell am Werten und zu schnell bei: „Jetzt musst Du Dich entschuldigen!“

Und wenn die Kinder aktiv um Klärung bitten – also schreien: „Der hat mir das weggenommen?“

Dann geht es erst einmal um Fragen: „Hast Du es ihm schon gesagt, dass es Dich stört? Wie soll ich Dich unterstützen?“ Wir müssen uns eigentlich den Auftrag vom Kind abholen. Wir geraten sonst in die Situation, instrumentalisiert zu werden, dem Kind die Handlung aus der Hand zu nehmen. Besser ist es andersrum. Was will denn das Kind? Okay, es weint. „Dann komm mal zu mir.“ „Erzähl mal.“ „Was ist denn passiert?“ „Oh, das ist ja wirklich gemein.“ „Hat der gar nicht gefragt?“ „Was machen wir denn jetzt?“ „Hast Du es schon alleine probiert?“ „Was sollen die Mama/der Papa jetzt machen?“ „Okay, na dann gehen wir da hin.“ Und dann kann es natürlich passieren, dass das andere Kind sagt: „Nö!“. Und die Schaufel nicht hergibt. Das ist dann natürlich erst einmal eine Schachmatt-Situation.

Und dann?

Wenn ich jetzt hergehe und dem anderen Kind die Schaufel aus der Hand rupfe, dann lernen die Kinder: „Ach, schau mal, der/die Stärkere gewinnt.“ Das heißt, mein Schlichtungsverhalten muss eigentlich immer lösungsorientiert sein. Kind A das eroberte Spielzeug einfach wegzunehmen, ist keine Lösung. Stattdessen geht es um Kompromisse. Wie interessiere ich das Kind für andere Lösungen. Das kostet Zeit und Nerven.

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Die haben viele Eltern nach der langen Coronazeit ja häufig noch

Wenn das nicht funktioniert, gibt es eine Alternative: nicht autoritär, aber autoritativ. Ich sage: „Jetzt ist gut. Die Mama/der Papa nimmt jetzt die Schaufel und räumt sie weg.“ Das hat den Vorteil, dass die Kinder jetzt eine gemeinsame Front haben, nämlich den Erwachsenen. Der ist jetzt doof, denn er hat uns das Objekt der Begierde weggenommen und dann fangen die Kinder an, sich Alternativen zu suchen.

Nehmen wir mal die Situation, ein Kind wirft mit Sand, das andere plärrt. Da zuckt doch jede Mutter, jeder Vater und will sofort eingreifen.

Also wenn ein Kind weint, macht es Sinn, dieses Kind aus der Sandwurfrichtung zu befreien und das andere Kind darauf aufmerksam zu machen, was es zu tun hat. In dem Moment, in dem ich einem Kleinkind im Alter unter drei Jahren sage, „Du sollst nicht Sand werfen“, bleibt aber im Kopf: „Sand werfen“. Denn das Kind versteht die Verneinung nicht. Das heißt, ich muss dem Kind sagen: „Der Sand gehört ins Förmchen und auf den Boden.“ Ich muss eine Handlungsanweisung geben und kein Verbot aussprechen.

Andere Situation: Ein Kind schubst die anderen, auf der Treppe vor der Rutsche, weil es vorbei will.

Auch da muss ich differenzieren: Es gibt diesen Bodycheck. Das ist eine Form der Kontaktaufnahme. Das ist häufig unter Buben ein beliebtes Mittel der Kontaktaufnahme. Da müssen wir vielleicht ein bisschen den Dampf rausnehmen. Ansonsten wenn da wirklich ein „kleiner Haudrauf“ rempelt und die Treppe hochgeht und vielleicht die jüngeren Kinder gefährdet, dann wird dieser von der Rutsche weggenommen. Aber das kann es mit den anderen Eltern wirklich Ärger geben.

Spricht man dann nicht besser gleich die anderen Eltern an?

Wenn Gefahr im Verzug ist, können Sie ja keine Eltern ansprechen. Wenn Sie aber direkt danebenstehen und sagen „Vorsicht! Die anderen Kinder fallen von der Leiter runter!“ können Sie diejenige oder denjenigen runternehmen und sagen: „Stell Dich wie alle hinten an.“

Haben Eltern etwas falsch gemacht, wenn Kinder sich nicht selbst wehren?

Nein. Das liegt häufig in der Entwicklung und in der Persönlichkeit des Kindes. Es gibt die Beobachtung, dass Kinder erst mit circa eineinviertel Jahren anfangen, Dinge wegzunehmen oder zu stoßen. Und dann gibt es natürlich auch Grundcharaktere, die nicht unbedingt körperlich aktiv sind. Wenn die Eltern dann sagen, „Du musst Dich wehren“, ist das für das Kind schwierig, weil es gar nicht zu seinem Charakter passt.

Streiten Jungs und Mädchen unterschiedlich?

Tendenziell können wir beobachten, wenn sich Mädchen streiten, wird mehr verbal attackiert. „Du bist nicht mehr meine Freundin.“ „Ich lade Dich nicht zum Geburtstag ein.“ „Du hast ein blödes T-Shirt.“ Und so weiter. Das hat zur Folge, dass sie untereinander richtig stinkig werden und ohne Weiteres auch mal eine Zeit lang nicht mehr miteinander spielen. Buben werden zum Großteil eher körperlich, vertragen sich danach häufig schneller wieder und scheinen auch schneller ins gemeinsame Spiel zurückzukehren.

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Jungs werden aber doch heute eher davon abgehalten, sich zu prügeln. Schafft man damit Probleme?

Wir schaffen unseren Jungen Probleme. Einerseits, weil eine körperliche Auseinandersetzung häufig mit Verboten einhergeht, aber keine Handlungsalternativen aufgezeigt werden. Zweitens, weil die Dynamik, die die Kinder leben wollen, negativ betrachtet wird und damit gerade die Buben auch ein negatives Bild von sich gespiegelt bekommen. Das größte Problem ist aber, dass die Jungs keinen Verhaltenskodex geliefert bekommen, wie darf man Streit haben. Und dann kommt es später in Teilen zu Übergriffen, die bedenklich sind, weil vorher niemand da war, der den „fairen Kampf“ untereinander begleitet hat. Das miteinander Kämpfen, diese körperliche Auseinandersetzung muss erlernt werden. Dieses Ehrenhafte, was ist okay, was ist nicht okay. Jungs (und auch Mädchen) brauchen Gelegenheiten, dass diese körperliche Aktivität nicht im Keim erstickt wird.

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Unsere Expertin

Sabine König Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Sabine König (62) ist seit vielen Jahrzehnten eine Konstante in der Stuttgarter Elternarbeit und -beratung. Die Sozialpädagogin und systemische Therapeutin war in den 90er Jahren eine der ersten, die Pekip-Gruppen für Mütter und Kinder anbot und eine Schreibabyberatung ins Leben rief. Heute berät sie in ihrer Praxis für Beziehungs- und Erziehungsfragen in Stuttgart Mütter und Väter und ist für Vorträge buchbar. Viele Jahre war sie auch im Auftrag des Jugendamtes unterwegs, hat mit Alleinerziehenden und Pflegefamilien gearbeitet. Sabine König ist Mutter zweier erwachsener Söhne.