Die Solisten der Festwochen-Gala beim Schlussapplaus Foto: Elisabeth Kabatek

Ein Ballettfan ganz nah dran: Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek („Laugenweckle zum Frühstück“) begleitet die Festwoche für Reid Anderson mit einer Kolumne. Zum Ende heißt es auch für sie Abschiednehmen mit einem „Danke, Reid!“

Stuttgart - Es ist nicht zu fassen. Kurz vor halb vier öffnen sich die Schleusen des Himmels. Platzregen! Der hält auch eine ganze Weile an. Und trotzdem gibt es viele, viele Tapfere, die sich davon nicht schrecken lassen und mit Schirm und Regencapes Ballett im Park genießen. Belohnt werden sie mit einem mehr als fünfstündigen, umwerfenden Programm!

Vor der Gala treffe ich mich mit der wunderbaren Sue Jin Kang. Vom Stuttgarter Publikum vergöttert, tanzte sie vor zwei Jahren bei der Festwoche zur 20-jährigen Intendanz von Reid Anderson ihre Abschiedsvorstellung – „Onegin“ mit Jason Reilly. Wie ist es, zurück in Stuttgart zu sein?

„Immer schön“, lacht sie, diese wunderschöne Frau, die überhaupt nicht zu altern scheint. „Ich war so viele Jahre hier, Stuttgart ist immer noch meine zweite Heimat.“

Die zweite Frage, nämlich, ob die Leute sie immer noch erkennen, kann ich mir eigentlich sparen. Unser Gespräch wird nämlich ständig von Freudenschreien unterbrochen, und dann stürzen sich Ballettbesucher auf Sue Jin und küssen und umarmen sie. Keine Frage, das Publikum kennt und liebt sie noch immer!

„Tanzen Sie noch?“ Sie schüttelt den Kopf. „Die letzte Vorstellung hier, das war meine Abschiedsvorstellung. Das bleibt mir für immer. Wenn ich noch auf der Bühne stehen wollte, dann müsste ich viel trainieren, dann könnte ich meine Arbeit nicht machen. Ich trainiere für mich, das schon, aber nur so viel, wie mein Körper braucht, und damit ich gegebenenfalls meiner Kompanie etwas vortanzen kann. Als ich früher beim Ballett war, habe ich immer sehr viele Übungen gemacht, und ich habe das als Gewohnheit beibehalten.“

Wie kommt ein Christian Spuck in Korea an?

Vermisst sie das Tanzen nicht? „Ich bin nicht traurig, dass ich nicht mehr tanze. Ich habe immer Schmerzen gehabt, als ich getanzt habe, aber das war nicht schlimm – ich wollte immer etwas weitergeben an die nächste Generation. Aber es ist schön, dass ich jetzt keine Schmerzen mehr habe!“ Nicht umsonst nannte Anderson Sue Jin seinen „Eisernen Schmetterling!“

„Wie geht es Ihnen in Korea, als Direktorin des Koreanischen Nationalballetts?“

„Es geht mir gut! Ich habe 90 Tänzerinnen und Tänzer und 120 Leute für das Drumherum. Ich bin jetzt gut ausgestattet, besser als am Anfang. Ballett wird in Korea immer mehr wertgeschätzt! Nicht ganz so wie Fußball, aber doch!“

„Ich habe mir mal das Repertoire angeschaut. Sie haben auch Christian Spuck im Programm. Wie kam das in Korea an?“

„Sehr gut! Bevor ich kam, wurden in Korea vor allem klassische Stücke wie ,Schwanensee’ getanzt. Die Tänzerinnen und Tänzer waren auch sehr klassisch, und sie mussten sich erst umstellen, dass sie nun ganz unterschiedliche Stücke machen – anfangs fiel ihnen das schwer. Jetzt sind sie viel flexibler. Christian Spucks ,Anna Karenina’ hat das Publikum sofort geliebt. Auch ,Der Widerspenstigen Zähmung’ kam sehr gut an, und den Tänzerinnen und Tänzern hat das sehr viel Spaß gemacht. Handlungsballette sind ein Geschenk für das Publikum!“

„Hat Reid Anderson Sie schon in Korea besucht?“

„Bisher hat er keine Zeit gehabt. Ich hoffe, er schafft es irgendwann!“

„Was geht Ihnen heute, bei seinem Abschied durch den Kopf?“

Noch ist Reid Anderson der Boss

„Wir haben immer viel miteinander geredet, er war immer hilfsbereit. Ich kann nur ein Wort sagen: Danke! Das hat ganz viele Bedeutungen, nicht nur eine, und er weiß, was ich meine. Ich hoffe, er genießt das Leben jetzt, in dieser anderen Etappe. Ich wünsche ihm ein gesundes, ein happy life!“ Wir sind kaum aufgestanden, da strahlt ein älterer Herr Sue Jin an. „Sie waren die Allerbeste!“, ruft er aus.

Danke, Reid!, das wird das Motto des Abends. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Balletts tragen dieses Danke auf schwarzen T-Shirts. Tamas Detrich hat noch einen draufgesetzt, sein Danke-T-Shirt glitzert. Nach dem fulminanten Gala-Auftakt – die John Cranko Schule zeigt noch einmal einen Ausschnitt aus den „Etüden“, bevor die komplette Kompanie zum festlichen Defilee ganz in weiß auf die Bühne kommt – begrüßt der designierte Ballettdirektor die Galagäste. Er kündigt eine Retrospektive XXL an und bittet dann seinen Chef – „Ich sage ganz stolz: Er ist noch mein Boss!“ – auf die Bühne. „I’m going!“, ruft Reid aus der Königsloge, wo er heute zur Feier des Abends sitzt. Nicht in der üblichen Hausloge! Von dort winkt huldvoll Marcia Haydée herunter. Auf der Bühne stehen ein Rednerpult und zwei verschnörkelte Sessel. Reid nimmt Platz und Winfried Kretschmann dankt ihm als Ministerpräsident von Baden-Württemberg in einer sehr persönlichen Rede für die „Ära Anderson.“ Er bedankt sich für 2,5 Millionen Zuschauer, 94 Prozent Auslastung und dafür, dass 62 Prozent der Tänzerinnen und Tänzer „selbstgebacken“ aus der John Cranko Schule kamen. Er bescheinigt Reid Anderson, dass er Stuttgart durch die Internationalität offener und toleranter gemacht hat. „Und dass sich das Ballettwunder im protestantischen Schwaben ereignet hat, macht es noch größer!“ Zum Abschluss gelingt es Winfried Kretschmann nun sogar, den ansonsten wirklich nicht auf den Mund gefallenen Noch-Intendanten sprachlos zu machen – und gerührt. Er überreicht ihm nämlich die Große Staufermedaille in Gold – „Die seltenste Auszeichnung des Landes Baden-Württemberg!“

Herzzerreißend auch ohne Balkon

Als Nächstes – das Ballett wird zur einen Hälfte vom Land, zur anderen von der Stadt Stuttgart finanziert – bedankt sich Oberbürgermeister Fritz Kuhn für alles, was Reid Anderson für die Stadt getan hat. Er hofft, dass ihm noch ein langes Leben beschieden ist – „Aber wenn Sie dann in den Himmel kommen, dann werden Sie sicher als Erstes mit den Engeln eine Tanzkompanie gründen!“

Dann hält Marcia Haydée eine Laudatio, in der sie sich nicht nur dafür bedankt, dass Reid Anderson sie nach dem offiziellen Ende ihrer Karriere von der Schwäbischen Alb zurück ans Ballett gelockt hat, und ihr mit Altersrollen wie der Amme in „Onegin“ oder „Romeo und Julia“ eine zweite Karriere beschert hat, sondern sie erzählt auch sehr lustige Anekdoten aus der Zeit, als sie mit Reid zusammen getanzt hat. Vor allem aber dankt sie ihm dafür, dass sie bis heute Teil des Stuttgarter Ballettwunders ist!

Nun aber, endlich, nach all den Reden, wird getanzt! Und WIE getanzt wird. Um siebzehn Uhr hat die Gala begonnen; als die Gäste das Opernhaus verlassen, ist es kurz vor dreiundzwanzig Uhr! Wenn man alle Stücke dieses Abends zusammenzählt, kommt man auf zweiundzwanzig. Zweiundzwanzig Stücke für zweiundzwanzig Jahre Intendanz, chronologisch mit Romeo und Julia (1996/97) beginnend und (nicht chronologisch) mit Onegin endend, bevor das rauschende Finale beginnt. Es sind zu viele Stücke, um sie einzeln zu beschreiben. Es sind überwiegend Pas de deux, zu jeder Choreografe wird ein riesiges Foto mit Namen und Bild der ursprünglichen Besetzung projiziert. Dies ist der Abend, an dem vor allem die Solistinnen und Solisten Reid Anderson ihre Referenz erweisen. Eine Leistungsschau sondergleichen, und das nach einer kräftezehrenden Festwoche! Aber niemand wirkt an diesem Abend müde. Nicht Hyo-Jung Kang und Jason Reilly, die die Balkonszene aus „Romeo und Julia“ auch ohne Balkon herzzerreißend tanzen. Nicht Alicia Amatriain, Roman Novitzky und Martí Fernández Paixà, die in der „Suite“ von Uwe Scholz einen wunderschönen Pas de trois tanzen, in dem Alicia wie das Bindeglied zwischen den beiden Männern wirkt, eine Choreografie, die mit einem wunderschönen Moment der Verbundenheit endet. Und schon gar nicht Elisa Badenes und Gasttänzer Daniel Camargo, die das Publikum gleich zweimal zu Begeisterungsstürmen und lauten Bravo-Rufen hinreißen, einmal in Maximiliano Guerras „Don Quijote“ und einmal in Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“. Wie Daniel springt und wie Elisa Pirouetten dreht – das ist einfach sensationell! Dies ist ein Abend der Höchstleistungen, und man spürt, wie hier alle noch einmal ihre Kräfte mobilisieren, um sich bei ihrem geliebten Intendanten zu bedanken und zu verabschieden. Der Gänsehaut-Moment des Abends ist der Pas de deux aus John Neumeiers „Othello“, getanzt von Gast-Tänzerin Anna Laudere und Jason Reilly. Kann man die Liebesbeziehung zweier Menschen zärtlicher und anrührender darstellen – und tanzen? Wohl kaum! Jedenfalls hält das ganze Publikum hörbar den Atem an.

Abstecher hinter die Bühne

In der zweiten Pause bin ich kurz hinter der Bühne, für ein kurzes Interview mit Sonia Santiago, die Ballett im Park moderiert. „Noch immer nicht im Tutu?“, fragt mich Friedemann Vogel grinsend. Äh – nein, und das ist auch besser so! Haben Sie sich schon einmal gefragt, was Ballettstars in der Pause machen? Hängen sie erschöpft in der Ecke und saugen an ihrer Wasserflasche? Nein, sie sind alle irgendwo auf der Bühne und dehnen, und sie sehen kein bisschen müde aus! Nach der zweiten Pause geht es Schlag auf Schlag: Friedemann Vogel tanzt ein Solo aus Marco Goeckes „Orlando“, das Publikum tobt, und so geht es nun weiter bis zum Schluss, denn nach jedem Stück gibt es Grund zu toben. Natürlich darf „Die Kameliendame“ nicht fehlen, Roman Novitzky tanzt die Rolle des Vaters, die John Neumeier 1978 für Reid Anderson kreierte. Übrigens wird die „Kameliendame“ in der nächsten Spielzeit wieder aufgenommen! Kurz vor Schluss gibt es noch das saukomische Spuck-Stück „Le Grand Pas de deux“. Man merkt Elisa Badenes und Jason Reilly an, was sie für einen Riesen-Spaß haben. Elisa tanzt mit Brille und Handtäschchen und macht mit ihrem Tanzpartner, der sie auch mal reichlich unsanft über die Bühne schleift, so einiges mit. Humor im Ballett, das ist sauschwer, hat Rolando D’Alesio vor ein paar Tagen zu mir gesagt. Die Mischung aus Komik und tänzerischer Höchstleistung machen das Stück zu einem der umjubelsten des Abends. Das letzte Stück vor dem Finale ist der Schluss von „Onegin“, getanzt von Alicia und Friedemann. Wie die beiden es schaffen, von Null auf Hundert in diese hochdramatische Szene einzutauchen und das Publikum zu Tränen zu rühren – unfassbar!

Ein Abend mit Weltklasse-Tänzern

Unfassbar ist auch das Programm, das Tamas Detrich zusammengestellt hat, um seinem Chef zu danken und ihn zu verabschieden. Wie im Flug ist der Abend mit diesen Weltklasse-Tänzerinnen und – Tänzern vergangen. Beim rauschenden Finale, mit dem Tamas Detrich den Bogen schlägt zur Gala vor zwei Jahren, erweist die ganze Kompanie ihrem scheidenden Intendanten singend und tanzend die Referenz, bevor die Solistinnen und Solisten im Hintergrund aufmarschieren. „Danke, Reid!“, wird in riesigen Buchstaben auf die Decke des Opernhauses projiziert, und nun, endlich, darf sich auch das Publikum bedanken, mit den Plakaten, die es Reid entgegenstreckt, und auf denen – wie könnte es anders sein – Danke, Reid!, steht. Der kommt endlich auf die Bühne, und nun wird umarmt und geküsst und gelacht und sicherlich auch geweint, bevor viele Gäste und Wegbegleiter Reid mit einer Rose und einer Umarmung verabschieden – Sue Jin, Bridget Breiner, Christian Spuck. Eric Gauthier wirft sich vor Reid auf den Boden, und der wiederum schnappt sich Georgette Tsinguirides und hebt sie hoch und drückt sie. All dies unter dem tosenden Applaus des Publikums, das längst aufgesprungen ist, auch den Ministerpräsidenten und den Oberbürgermeister hält es nicht mehr auf ihren Sitzen, und noch immer streckt das Publikum Reid seine Dankes-Herzen entgegen – und der bedankt sich schließlich mit einer sehr, sehr komischen, selbstironischen Stepp-Improvisation zwischen Luftballons beim Publikum, bis zum Schluss der perfekte Entertainer.

Und nun ist alles gut. Es ist gut, dass es ein Ende gefunden hat, denn irgendwann muss auch die schönste Festwoche zu Ende gehen, auf Dauer hält das ja kein Mensch durch, der scheidende und der neue Intendant nicht, die Tänzerinnen und Tänzer nicht, die Leute hinter den Kulissen nicht, das Publikum nicht, und auch nicht die Bloggerin. All die Emotionen der vergangenen Tage, sie müssen erst einmal verarbeitet und verdaut werden, all diese traumhaft schönen Momente im Ballett. Es wird gut sein, wieder zu normalen Zeiten ins Bett gehen zu dürfen. Auch wenn ich schon befürchte: Morgen wird etwas fehlen, es wird ein wenig leer sein und ein wenig melancholisch. Aber die gute Nachricht ist: Es ist ein Abschied. Kein Ende! Ein Neuanfang im Herbst mit Tamas Detrich. Oder, um Alicia Amatriain noch einmal zu zitieren: Ein Weitergehen. Danke, Reid. Alles Gute! Und alles Gute, Tamas Detrich – wir freuen uns drauf!