Die „Geschichte der getrennten Wege“ spielt vor dem Hintergrund der 68er-Studentenproteste. Foto: AP

Der dritte Band von Elena Ferrantes vierbändigem Romanzyklus erzählt in der „Geschichte der getrennten Wege“ vom Schicksal des gegensätzlichen neapolitanischen Freundinnenpaars im Italien der sechziger Jahre.

Stuttgart - Neapel gammelt und gärt vor sich hin. Die umgebenden Hügel sind mit hingepfuschten Bauten überladen, Ströme von Müll, Dreck und Bakterien ergießen sich von ihnen ins Meer. In einer verkommenen Grünanlage wird eine Frauenleiche gefunden, und ein ganzer Palazzo neigt sich zur Seite wie ein Mensch, der sich auf eine wurmstichige Armlehne stützt, die nachgibt: „Es schien, als hegte die Stadt eine Wut, die keinen Weg hinausfand und sie deshalb innerlich zerfraß oder auf ihrer Oberfläche Pusteln bildete, prall von Gift gegen alle.“

Trostloser wurde die einst gerühmte Schönheit der kampanischen Hauptstadt wohl selten entfaltet, als in dem Entree, mit dem Elena Ferrante den dritten Band ihrer Neapel-Saga eröffnet. Und doch findet man sich als Leser dieser „Geschichte der getrennten Wege“ bereits nach wenigen Schritten unwiderruflich eingemeindet in dem Rione wieder, jenem dürftigen Viertel, dem die einander in äußerst ambivalenten Neigungen zugetanen Romanheldinnen Lila und Lenu seit ihrer Kindheit zu entkommen versuchen. Mit mäßigem Erfolg.

Die genialisch begabte Schustertochter Lila, von den Umständen um eine höhere Bildung geprellt, hat man im letzten Band nach der gescheiterten Ehe mit einem brutalen Wurstverkäufer am untersten Ende der sozialen Nahrungskette in der Ausbeutungshölle eines Fleischfabrikanten zurückgelassen. Ihre Trabantin Lenu wiederum, die Erzählerin, hat es immerhin geschafft, mit Fleiß, Eifer und den Inspirationen ihrer Freundin eine andere Umlaufbahn zu erreichen. Nach ihrem Studium ist sie zur Schriftstellerin gereift und steht nun vor der Ehe mit einem vielversprechenden Gelehrten aus guter Familie. Doch die Anziehungskraft des Herkommens bleibt bestehen, mal im Schatten des Konkurrenzkampfs mit der Freundin, mal im Licht der Jugendliebe Nino Sarratore, der wie ein Wandelstern über den Betten junger Frauen kreist, um ihrem Schicksal eine neue Wendung zu geben.

Reformer gegen Revolutionäre

Aber wer redet von Schicksal. Die sechziger Jahre neigen sich dem Ende zu. Die Studenten gehen auf die Barrikaden gegen die alten Mächte: Reformer gegen Revolutionäre, Kommunisten gegen die faschistischen Schläger, mit deren Hilfe sich beispielsweise Lilas Arbeitgeber das Privileg sichert, mit seinen weiblichen Angestellten zu tun, was ihm beliebt. Doch die Fronten im Kampf um sexuelle Selbstbestimmung, Emanzipation und Gleichberechtigung sind verwinkelt. „Die jugendlichen Helden, die der Gewalt der Reaktion auf eigene Gefahr die Stirn boten, hießen Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit. Und wie in den Kriegsfilmen, in denen es nur Männer gab, war es schwierig, sich dazugehörig zu fühlen, man konnte sie nur lieben, den eigenen Kopf ihren Gedanken anpassen und um ihr Schicksal bangen“.

Aber heiraten? Auch unter den aufgeklärten Bedingungen ihres neuen Lebensumfeldes fern des Rione bleibt Lenu ein typisches Frauenschicksal nicht erspart. Zwischen ideologischen Scharmützeln, den Verheißungen der freien Liebe und dem ernüchternden sexuellen Alltag im Ehebett fasst sie den Plan eines literarischen Befreiungsschlags. Sie schreibt ein feministisches Buch, freilich nur, um wieder einem Mann zu imponieren: Nino Sarratore.

Im Untergrund expandiert die Mafia

Während im Untergrund die mafiösen Verbindungen der Solara-Brüder immer weitere Teile der Stadt unterwandern und ihre Schattenwirtschaft expandiert, schanzt sich auch die ehrenwerte Gesellschaft der linken Bildungselite über intellektuelle Netzwerke untereinander Gefälligkeiten und Empfehlungen zu. Und vielleicht ist eine sich über Verbindungen jedweder Art unterhalb der offiziellen Oberfläche organisierende Gesellschaft die Voraussetzung dafür, über den begrenzten Personensatz eines Romans so vollständig erschlossen werden zu können, wie es Ferrantes Werk für die jüngere italienische Sozialgeschichte leistet.

Wie kommunizierende Röhren hängen die Parallelbiografien der beiden zentralen Frauenfiguren zusammen: Tendiert die eine abwärts, steigen die Chancen der anderen und umgekehrt. So profund Elena Ferrante, wer immer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, mit dem komplementären Auf und Ab ein getreues Bild der Verhältnisse zeichnet, so sehr nutzt sie es zugleich als ein der Kolportage entlehntes dramaturgisches Prinzip. Auch wenn man sich mit Recht auf die Tradition eines spezifischen italienischen Verismus berufen mag, um den zugänglichen Realismus dieser Schreibweise gegen den Vorwurf der Trivialität zu verteidigen, ist es doch unübersehbar, wie viel in Linas und Lenus Geschichte durchaus auch von „Hanni und Nanni“ für Erwachsene steckt: ein geschicktes Arrangement von Rivalitäten aller Art, Abenteuern, Sex, Crime und Cliffhangern. Doch die Alternative lautet in diesem Fall nicht Unterhaltung oder hohe Literatur. Zu fragen wäre vielmehr, wie es Literatur schafft, von so genauer Beobachtungsgabe, von so schonungslosem Wirklichkeitssinn und historischer Präzision und gleichzeitig so ungeheuer unterhaltsam zu sein?

Gewagte Verbindung

Man könnte probehalber einmal literarische Begriffe durch filmische ersetzen: Saga durch Soap, Zyklus durch Serie, Band durch Staffel. Das florierende Serienwesen sei dabei, die große Welterklärungsmaschine des Romans zu beerben, ist immer wieder zu lesen. Ferrante wäre ein Beispiel in die andere Richtung. Gerade, was sie mit den besten unter den Serien teilt, den langen Atem, das große horizontale Panorama, die Entfesselung der Zeit macht sie den Epikern des 19. Jahrhunderts gemäß – unter den Voraussetzungen der Gegenwart.

Ehen scheitern, zumal in der patriarchalisch geprägten Welt, in der sich diese weiblichen Lebensentwürfe behaupten müssen. Doch mit jedem weiteren Band erweist sich ausgerechnet die gewagteste Verbindung als die stabilste: die Vermählung von brutaler, ungeschönter Wirklichkeit und Genre.