Viele Helfer sind Freunde oder Verwandte des Weinguts Sankt Annagarten. Foto: Ingo Nicolay

Das Weingut Sankt Annagarten in Beilstein hat am frühen Samstagmorgen ihren Eiswein gelesen. Rund ein Dutzend Helfer trotzen der eisigen Kälte.

Es herrscht klirrende Kälte. Was andere schon in Gedanken frieren lässt, bringt den Winzer Marcel Wiedenmann erst zur Hochform. Er hat nur wenig geschlafen und war noch mitten in der Nacht in den Weinbergen. Doch jetzt ist es endlich so weit: die Eisweinlese beginnt.

Es ist 6 Uhr morgens und stockdunkel. Im Hof des Familienweinguts Sankt Annagarten in Beilstein herrscht dennoch geschäftiges Treiben. Ein starkes Dutzend Freunde, Verwandte und Mitarbeiter stehen dick vermummt und fröstelnd in der Kälte und warten auf ihren Arbeitseinsatz.

Zwischen Erfolg und wirtschaftlichem Totalverlust

-12 Grad hatte es in der Nacht. Nur -7 Grad wären erforderlich für die Eisweinlese. Gleich geht es im Tross los: Ein Schlepper schneidet mit seinen Scheinwerfern Löcher in die dunkle Nacht. Drei weitere Autos mit den Helfern beladen folgen dem Traktor vorsichtig über die vereisten Feldwege. Der noch nicht gelesene Weinberg mit Riesling liegt im Nordwesten Beilsteins und ist einer der rund 14 Hektar Rebfläche des Bioweinguts. Seit dem frühen Morgen drückt etwas Nebel herab und verdeckt den fahlen Halbmond.

Am Lindenweinberg angekommen, steigen die Helfer mit ihren Stirnlampen wie eine Prozession von Glühwürmchen den Wengert hinauf. Die Trauben sind fest an den Rebstöcken gefroren und ihr Reif glitzert im Schein der Lampen. „Papa hat gesagt, wenn jedes Beerlein einen Liter gäbe, würde er heute Abend einen Freudentanz machen“, plaudert der neunjährige Sohn Maximilian Wiedenmann aus dem Nähkästchen. Kein Wunder: die Lese der Beeren für den Eiswein ist der Höhepunkt und krönende Abschluss eines anspruchsvollen Winzerjahres. Zwischen Erfolg und wirtschaftlichem Totalverlust liegen nur wenige Grade. Nicht jedes Jahr ist den Wiedenmanns die Freude eines Eiswein-Jahrgangs vergönnt. Vater Hans Wiedenmann erinnert sich lediglich an ein Dutzend Eisweinlesen, obwohl das Weingut heuer sein 50-jähriges Bestehen feiert.

Die Kunst des Kellermeisters ist gefragt

Der Eiswein ist ein äußerst komplexes Naturprodukt, dessen Herstellung fast schon alchemistische Fähigkeiten erfordert. Es sollte nämlich so wenig Schnee wie möglich im Pressgut sein. Die Reben wurden daher schon lange mit Netzen abgebunden, damit die wertvollen Beeren nicht einfach auf den Boden fallen. Für den Eiswein haben die Wiedenmanns zudem extra eine alte Presse aufgehoben.

Ebenso wichtig wie Frost ist jedoch die dann folgende Kunst des Kellermeisters. Über mehrere Nächte werden die Trauben nun gepresst und weiter verarbeitet. Wie lange und wie oft dieser Prozess wiederholt wird, erinnert beinahe schon an die Kunst der Druiden bei der Zubereitung einer ihrer Zaubertränke.

Nach nicht einmal zwei Stunden sind alle Trauben gelesen und die Helfer zurück am Weingut. Dort gibt es ein kräftiges Vesper und Frühstück. Und es wird viel gelacht: Der soziale Zusammenhalt ist allen mindestens so wichtig wie die Arbeit.

Das Refraktometer sagt: 165 Grad Oechsle

Später kommen Vater und Sohn nach. Marcel strahlt über das ganze Gesicht. „165 Grad Oechsle zeigt das Refraktometer. Und das, obwohl zu Beginn noch Schnee dabei war“, erklärt der junge Chef Marcel voller Stolz. Auch die erwartete Menge des Weins sei mehr als zufriedenstellend. Ab jetzt zählt seine Kunst als Kellermeister. Wie all die Jahre zuvor würden auch von diesem Eiswein wieder viele Flaschen bis nach Tokyo oder Kobe in Japan verschickt werden, vermutet Marcel Wiedenmann. Denn nicht nur hier in der Region, sondern in aller Welt gäbe es Genießer unserer hiesigen Weine.