Kamila Walijewa verliert mehrmals das Gleichgewicht während ihrer Kür. Foto: imago/Xinhua

Der Wirbel um ihre positive Dopingprobe war zu viel für die 15-Jährige: Im Kür-Finale stürzt die russische Eiskunstläuferin mehrmals und weint bitterlich. Trost verwehrt die Trainerin.

Peking - „Der Bolero“ war verklungen, kurz verharrte sie in ihrer Abschlusspose. Dann wich die Spannung aus den Muskeln von Kamila Walijewa, ihr Gesicht verlor das maskenhafte Lächeln, und sie verbarg es in den Händen. Tränen. Die erst 15 Jahre alte Eiskunstläuferin hatte dem enormen Druck und den Erwartungen der weltweit Millionen Augenpaare, die auf sie gerichtet waren, nicht standgehalten. Ihre Kür wurde zu einer Offenbarung, die offenlegte, dass Kamila Walijewa keine seelenlose Eiskunstlaufmaschine ist, sondern ein 15 Jahre alter Teenager, der den Wirbel um ihn nicht wegsteckte wie ein abgebrühte Routinier.

 

Die kleine Russin stürzte beim Vierfach-Salchow und auch der Vierfach-Toeloop gelang nicht ganz, zudem unterliefen ihr einige Unsicherheiten – Kamila Walijewa stürzte vollends in den Abgrund, als die Noten kamen. Platz vier, keine Medaille. Sie konnte die Führung aus dem Kurzprogramm nicht verteidigen. Gold ging mit 255,95 Punkten an ihre Vereinskollegin Anna Schtscherbakowa, Silber holte Alexandra Trussowa, ebenfalls aus der Trainingsgruppe.

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Auf den TV-Übertragungen ist zu hören, wie Tutberidse zu Walijewa unmittelbar nach der verpatzten Kür sagt: „Warum hast du alles so aus den Händen gegeben? Warum hast du aufgehört zu kämpfen? Erklär mir das! Nach dem Axel hast du es aus den Händen gegeben.“ Kamila Walijewa schluchzte bitterlich – aber Trainerin Eteri Tutberidse nahm sie nicht tröstend in den Arm. In der Kiss-and-Cry-Ecke legte die 47-Jährige dann doch eine Hand auf die Schulter des todunglücklichen Schützlings.

Was manche nach dem Kurzprogramm, als die Russin nur einen kleinen Wackler zuließ, nicht erwartet hätten: Die junge Frau, die in zwei Monaten 16 wird, hat doch keine unerschütterliche Psyche – die Meisterin der Vierfachsprünge hat der Hype um ihre Person aus der Flugbahn geworfen. Der positive Dopingtest, der erst am 8. Februar publik wurde, die internationale Empörung, die Ankündigung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), dass sie nur unter Vorbehalt in Peking aufs Eis gehen darf.

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Kamila Walijewa ist seit Jahren freiwillig in einer Karrieremühle gefangen, Trainerin Eteri Tutberidse ist bekannt für ihr Fachwissen und berüchtigt für ihre Methoden, mit denen sie höchst talentierte Eiskunstläuferinnen zu Stars von Welt- und Europameister-Format schnitzt. Dass manche aus einem Holz bestehen, das den Belastungen nicht standhält und bricht, war immer wieder zu erleben. Viele ihrer grazilen Zöglinge sind hell wie ein Komet am Eislauf-Himmel aufgetaucht, um nach kurzer Zeit zu verglühen, bevor sie das 18. Lebensjahr erreichen.

„Man durfte nichts essen! Oder nur wenig.“

Julia Lipnizkaja war 15 Jahre alt, als sie bei den Winterspielen in Sotschi 2014 als jüngste Eiskunstläuferin Gold mit dem russischen Team gewann. Drei Jahre später beendete sie ihre Karriere. Magersucht. Leicht genug fürs Fliegen, nicht stabil genug, um sicher zu landen. Oder Alina Sagitowa. Sie war bei den Winterspielen in Pyeongchang ebenfalls 15 und jubelte in Reichweite von Eteri Tutberidse über ihre Goldmedaille. Ein Jahr später wurde die Russin Weltmeisterin, jetzt ist sie 18, für Peking war sie keine Option – Alina Sagitowa trat schon länger bei keinem Wettkampf an. Aber sie meldete sich, im Interview mit dem russischen „Sport-Express“ berichtete sie über ihre Leidenszeit bei der unnachgiebigen Trainerin und die strenge Diät, die ihr verordnet worden war. „Man musste einfach nur die Klappe halten und durfte nichts essen! Oder nur wenig“, erzählte der Teenager.

Verdienstorden für die strenge Trainerin

Zu viel Körpermasse verändert die Flugphysik negativ, schmale, leichte Körper brauchen die Mädchen, die alle um die 1,60 Meter messen, um die Vierfachsprünge mit einer vermuteten Schwerelosigkeit und der Virtuosität einer Schwalbe zu präsentieren, um das Publikum zu verzaubern und die Preisrichter zu beeindrucken. „Sambo 70“ heißt der Schwarm von Eteri Tutberidse, genannt werden sie ehrfürchtig die „Quad Squad“, die „Vierfach-Truppe“. „Tutberidse hat die Eislauf-Welt der Mädchen revolutioniert. Drehen, drehen über alles“, beschrieb es Reinhard Ketterer, Vizepräsident der Deutschen Eislauf-Union (DEU). Dass derlei Fähigkeiten nicht allein mit Fleiß erreicht werden, dass die Eleven ans physische und psychische Limit stoßen, muss kaum erwähnt werden. Manche Übungsleiter wollen diese Grenzen stets ein Stück weiter verschieben.

Ungeachtet der Kritik von vielen Seiten ist die 47 Jahre alte Tutberidse mit dem „Verdienstorden für das Vaterland“ in Russland ausgezeichnet worden, was bei der unkritischen Haltung des Staates nachvollziehbar ist, aber sie hat zudem 2020 den Titel „Trainerin des Jahres“ bekommen. Vom Weltverband ISU. Anna Schtscherbakowa (17 Jahre/1,59 Meter) findet daran nichts Anstößiges, sie denkt nicht, dass ihre Trainerin hart und unbarmherzig ist. „Ich bin dabei, seit ich neun Jahre bin“, betonte die Weltmeisterin, „das sagt alles.“ Was sollte sie auch sonst sagen? Eteri Tutberidse ist ihre Trainerin, und sie die Olympiasiegerin im Eiskunstlauf.