Nur mit Mühe konnten Polizisten und Feuerwehrleute die drei Männer bändigen, die am 5. Juli 2015 nach dem tödlichen Unfall in Bremevervörde die Arbeit der Rettungskräfte behinderten. Anstatt beiseite zu treten, gingen sie auf die Beamten los und verletzten sie erheblich. Foto: dpa

Nach einem schweren Verkehrsunfall kommt es am Unfallort zu Handgreiflichkeiten zwischen mutmaßlichen Gaffern und der Polizei. Beamte werden verletzt. Ein Gericht in Bremervörde prüft nun die Hintergründe.

Bremervörde/Stuttgart - Rund fünf Monate nach dem ersten Anlauf hat in Bremervörde erneut der Prozess gegen drei mutmaßliche Gaffer begonnen. Sie sollen im Sommer 2015 nach einem Verkehrsunfall die Arbeit der Einsatzkräfte behindert haben.

Laut Anklageschrift griffen zwei der drei Brüder im Alter von 20, 27 und 36 Jahren Polizisten und Feuerwehrleute an, verletzten und bedrohten sie. Bei dem Unfall war am 5. Juli 2015 eine 61-jährige mit ihrem Auto frontal in das Eiscafé Pinocchio in Bremervörde gerast. Ein zweijähriger Junge und ein 65 Jahre alter Mann starben. Mehrere weitere Personen wurden verletzt, einige von ihnen schwer.

Die drei Männer von der Eisdiele

Doch schon kurz nachdem der Prozess begonnen hat, wird er schon wieder unterbrochen. Der Vorsitzende Richter folgt am Dienstag einem Antrag der Verteidigung. Danach soll zunächst der Ausgang des noch parallel laufenden Prozesses zu dem Unfall selbst abgewartet werden.

Der Prozess gegen die drei Männer war bereits im September 2016 kurz nach der Eröffnung ausgesetzt worden, weil die Verteidigung erfolgreich beantragt hatte, weitere Akten zu dem Unfall hinzuziehen. Den heute 20, 27 und 37 Jahre alten Angeklagten wird Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung und versuchte Nötigung vorgeworfen. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte kann mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden.

Tödlicher Unfall vor dem Eiscafé

Vor dem Eiscafé hatten sich am 5. Juli 2015 nach dem Unfall zahlreiche Schaulustige versammelt. Der 27 Jahre alte Angeklagte wollte damals laut Anklage im abgesperrten Bereich Aufnahmen mit einem Handy machen, als gerade die Opfer weggetragen wurden. Einen Platzverweis ignorierte er. Er habe sich zudem „heftigst und wie von Sinnen gewehrt“, so die Staatsanwältin. Zwei Polizisten und ein Feuerwehrmann wurden bei den Handgreiflichkeiten verletzt.

Beim Auftakt des Prozesses im September war einer der Verteidiger dem Eindruck entgegengetreten, dass es sich bei den drei Männern um Gaffer handle. Sein Mandant, der heute 27-Jährige, sei gut bekannt mit dem Betreiber der Eisdiele und habe sich nur erkundigen wollen, wie es ihm gehe. Auch der Eisdielen-Betreiber war bei dem Unfall verletzt worden.

Fortsetzung am 14. März

Am Mittwoch wird am Amtsgericht Bremervörde die Verhandlung gegen die 61-jährige Unfallverursacherin fortgesetzt. Möglicherweise werden die Plädoyers gehalten. Auch ein Urteil wird nicht ausgeschlossen. Der Prozess gegen die drei Brüder soll am 14. März fortgesetzt werden.

Wortherkunft und Recht

Woher kommt das Wort gaffen?

Das Wort gaffen stammt vom althochdeutschen „kapfen“ und mittelhochdeutschen „kapfen“ – „den Mund aufsperren“ und dem altenglischen „ofergapian“ – vernachlässigen, vergessen. Von daher stammt auch der Begriff „Kampfer“. Noch älter ist die indogermanische Wortwurzel „ghe- „gähnen, nach Luft schnappen“. Von daher kommt auch japsen „nach Lust schnappen“.

Gaffen als Nervenkitzel

„90 Prozent der Leute sind sensationsgierig“, sagt der Soziologe Wolf Dombrowsky, Professor für Katastrophenmanagement an der Steinbeis Hochschule in Berlin. „Die restlichen zehn Prozent sind betroffen.“ Etwas Schlimmes aus sicherer Distanz zu beobachten diene als eine Art Erlebnisvorlage, mit der sich der Mensch ins Verhältnis setzen könne, so Dombrowsky. „Er denkt daran, dass er fast das Opfer gewesen wäre, und fantasiert darüber, was wäre, wenn ihm das passiert wäre.“

Dem Gaffer geht es um den Nervenkitzel und die Lust am Schauen. Das Gaffen ist eine Abart des Voyeurismus, wobei es nicht um sexuelle Stimulation geht, sondern um spektakuläre Ereignisse wie Massenkarambolagen auf der Autobahn. Der Gaffer – der Begriff hat generell eine negative Akzentuierung – ist der eher zufällige, auf jeden Fall aber unwillkommene Zuschauer.

Ist das Gaffen geplant und organisiert, spricht man Katastrophen-Tourismus. Hier kann das Objekt der Begierde eine Naturkatastrophe, ein Gewaltverbrechen oder sonst eine Monstrosität sein.

Juristische Aspekte

„Gaffen“ ist rechtlich gesehen eine Ordnungswidrigkeit, für die ein Bußgeld droht. Wenn man Rettungskräfte aktiv behindert, begeht man eine Straftat. Feuerwehrleute, Polizisten und Mitarbeiter des medizinischen Rettungsdienstes stehen unter besonderem gesetzlichem Schutz. Man behindert sie bereits beim Ausüben ihrer Tätigkeit, wenn man bei einem Unfall nicht zur Seite fährt, um eine Rettungsgasse zu bilden.

Aber auch passives Verhalten bei einem Unfall kann strafbar sein. Bei unterlassener Hilfeleistung drohen Geldstrafen und Haftstrafen von bis zu einem Jahr.

Wer Aufnahmen von Verletzten oder Unfallwagen macht, muss mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren rechnen. Schaulustige, die hilflose Personen filmen oder fotografieren, drohen Platzverweise, Beschlagnahme von Handys und Kameras, das Löschen von Foto- und Videomaterial sowie Bußgelder und Haftstrafen. Wer aktiv Rettungskräfte behindert kann für bis zu fünf Jahren ins Gefängnis wandern.

Seitens der Einsatzkräfte der Polizei oder Feuerwehr darf auch „unmittelbarer Zwang durch körperliche Gewalt und deren Hilfsmittel . . . angewendet werden“, heißt es in Paragraf 25 des Bayerischen Feuerwehrgesetzes.

Was tun gegen Gaffer?

Neues Gesetz gegen Gaffer in Vorbereitung

Was tun gegen Gaffer und Schaulustige, die bei Unfällen einfach stehen bleiben? Mit einem neuen Gesetzentwurf, der seit Dezember 2016 dem Bundestag vorliegt, will Justizminister Heiko Maas (SPD) ein derartiges Verhalten künftig härter bestrafen. In dem Gesetzestext geht es vor allem um die allgemeine „Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten“, mit dem Ziel, „tätliche Angriffe“ künftig schärfer zu ahnden.

Wie verhalten sich Autofahrer richtig?

„Wenn ich ungewohnte Situationen sehe, werfe ich erst einmal einen Blick darauf. Denn ich will erfassen, was da los ist. Das weckt meine Neugierde und erzeugt Aufmerksamkeit“, betont Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino vom ADAC. Das sei der erste Impuls, auch bei einem Unfall. „Das Neugiermotiv ist uns Menschen angeboren. Das ist erst mal auch nichts Negatives“, erklärt er. Wer im Vorbeifahren die Unfallsituation kurz erfasst, um etwa zu schauen, ob Hilfe erforderlich ist, handelt normal. „Denn ich muss mich ja auch erst einmal orientieren.“

Kritisch wird es ab dem Moment, wenn die Autofahrer oder Fußgänger ihren eigentlichen Weg nicht mehr fortsetzen, obwohl bereits klar erkennbar Hilfe vor Ort ist, und sich dazu entscheiden, die Situation passiv zu verfolgen, um zum Beispiel zu fotografieren oder zu filmen. „Durch die Kamera eines Smartphones habe ich eine Distanz zu dem, was ich anschaue. Das war früher so nicht der Fall“, so Chiellino.

Keine Fotos vom Unfallort machen

Die Möglichkeit, Fotos und Filme im Internet zu verbreiten und dafür Anerkennung durch hohe Klickzahlen zu bekommen, sei so früher auch nicht der Fall gewesen. Um der Schaulust aktiv entgegenzuwirken, rät der Psychologe, aktiv den Drang zu unterdrücken, sich dazuzustellen. Andere von der Schaulust abzuhalten, davon rät Chiellino ab.

„Da bin ich an Ort und Stelle schnell der Moralpolizist, was die Situation durch Konflikte verschärfen könnte.“ Am besten sei, durch sein eigenes Verhalten ein Vorbild abzugeben und weiterzugehen oder an der Unfallstelle vorbeizufahren. Das gelte natürlich immer nur dann, wenn klar ersichtlich ist, dass Hilfe bereits vor Ort ist. Wenn nicht, ist das Gegenteil erforderlich, nämlich direkt hinzugehen, um Hilfe zu leisten.