Anja Beckmann vom Jugendamt und Andreas Walker von der Jugendhilfe Hochdorf in den neuen Räumlichkeiten. Foto: Werner Kuhnle

Familien, denen das Kind weggenommen werden musste oder denen dieses Schicksal droht, können sich in einem neuen Angebot bewähren.

Im ersten Moment deutet auf dem Stockwerk eines neuen Mehrfamilienhauses in Pleidelsheim nicht viel darauf hin, dass hier ein im Kreis Ludwigsburg und darüber hinaus einzigartiges Angebot geschaffen wurde. Die drei Wohnbereiche plus Aufenthaltsraum und Küche sind neu möbliert. Ein Bällebad für Kinder wurde aufgebaut. Und doch sind es keine gewöhnlichen Räume.

„Wir lernen Familie“ heißt das Programm, das die evangelische Jugendhilfe Hochdorf hier auf die Beine stellt. Heißt: Es können Familien einziehen, bei denen auf der Kippe steht, ob das Kind bei seinen Eltern bleiben oder es zu ihnen zurückkehren darf. Eltern sollen hier lernen können, mit ihrem Kind umzugehen, um danach im Optimalfall als wirkliche Familie in die eigene Wohnung zurückzukehren. „Unser oberstes Ziel ist es, Familien zusammenzuhalten“, sagt Anja Beckmann, die beim Landratsamt den Bereich Kinder, Jugend und Familie leitet. Sie und ihre Kollegen müssen immer wieder die schwierige Frage beantworten, ob ein Kind bei den Eltern gut aufgehoben ist. „Für Familien, bei denen wir nicht genau wissen, ob sie sich sorgen können, gibt es dieses Angebot.“ Quasi als Bewährungschance.

„Der Maßstab ist immer das Kind“

Und das funktioniert so: Die Eltern oder nur die Mutter ziehen mit dem Kind freiwillig für einen begrenzten Zeitraum ein, verlassen ihr gewohntes Umfeld. Um die Versorgung und ihre Finanzen kümmern sie sich weiterhin eigenständig. Oberste Voraussetzung, um diese Konstellation einzugehen, ist die Einschätzung vom Jugendamt, dass der Schutz des Kindes gewährleistet ist. „Der Maßstab ist immer das Kind, das auch möglichst wenige Bindungsabbrüche erleben soll“, sagt Anja Beckmann.

Die Familien werden täglich, auch am Wochenende, von einem Mitarbeiter der Jugendhilfe Hochdorf besucht und geschult. Es wird danach geschaut, dass die Eltern eine Verbindung zu ihrem Kind aufbauen und die Erziehung richtig ausgeübt wird. Dabei kommt unter anderem eine Videoschulung zum Einsatz. Es wird also teils gefilmt, wie die Eltern mit ihrem Kind umgehen. Im Gespräch mit der pädagogischen Fachkraft lernen sie dann, was richtig und falsch war. „Die Eltern müssen mitarbeiten, wenn sie ihr Kind nach der Zeit hier mit nach Hause nehmen sollen“, sagt Anja Beckmann. Zeige die Zusammenarbeit nach wenigen Monaten keinen Erfolg, kommt das Kind (womöglich wieder) in eine Pflegefamilie oder eine Wohngruppe für Kinder.

Bislang ist eine Familie zeitweise eingezogen. Eltern mit ihrem einjährigen Kind, das bis dahin bei einer Pflegefamilie untergebracht war. Die Erwachsenen und das Kind lernten sich hier also erstmals wirklich kennen. Die Monate waren für die Beteiligten, auch die Mitarbeiter der Jugendhilfe, herausfordernd. Anfangs war unklar, ob das Zusammenleben klappt. „Inzwischen ist die Familie aber mit Kind wieder bei sich zuhause eingezogen und wird dort von uns nachbetreut“, erklärt Andrea Braun, Fachleiterin bei der Jugendhilfe. In diesem Fall verhalf „Wir lernen Familie“ zu einem ersten Happy End.

Räumlichkeiten in Neubau in Pleidelsheim

Die Idee zu dem Programm hatte man bei der Jugendhilfe Hochdorf vor rund zehn Jahren. „Damit sie Wirklichkeit wird, muss aber viel zusammenpassen“, betont ihr Vorsitzender Andreas Walker. Der Neubau in Pleidelsheim, in dem bezahlbarer Wohnraum geschaffen wurde, öffnete aber die Tür. Die Gemeinde verkaufte den Teil eines Stockwerks „zu einem fairen Preis“, so Walker, an die Jugendhilfe. Und die erhielt zudem Spenden, ohne die das Projekt nicht finanzierbar wäre: 350 000 Euro von der Stiftung Wohnhilfe, 20 000 Euro von der Stiftung der Kreissparkasse, je 10 000 Euro von der Diakonie Württemberg und der Walker-Stiftung in Schwieberdingen, dazu eine Küche von Ikea. Damit werden der Kauf und die Einrichtung finanziert und ein Ausgleich geschaffen, da die Familien im Normalfall keine Miete bezahlen, da sie parallel ihre eigene Wohnung weiterbezahlen müssen. Verbunden ist das Programm mit hohem personellem Aufwand, weshalb die Jugendhilfe Verstärkung sucht. In Zeiten des Fachkräftemangels kein leichtes Unterfangen. Für die Familien, die auf diesem Weg zusammenfinden können, wäre die Unterstützung umso wertvoller.

Programm ist kreisweit einzigartig

Neue Idee
 „Für dieses Programm gab es kein Vorbild. Im Landkreis ist es einzigartig und auch darüber hinaus ist uns kein ähnliches bekannt“, sagt Andreas Walker, Vorsitzende der Jugendhilfe Hochdorf. Dem Jugendamt verhilft „Wir lernen Familie“ bei der Entscheidung, welcher Weg für eine Familie der beste ist, zu einem größeren Spielraum. Befindet es sich doch zwischen den Extremen, das Kind in der Familie zu belassen oder es in eine Pflegefamilie zu geben.

Jugendhilfe Hochdorf
Die evangelische Jugendhilfe im Kreis Ludwigsburg ist ein gemeinnütziger Verein und Mitglied im Diakonischen Werk Württemberg. Sie hat rund 100 Mitarbeiter, mit denen sie an mehreren Orten im Landkreis sozialpädagogische Angebote schafft. Von stationären Wohngruppen bis zur Schulsozialarbeit. In den verschiedenen Betreuungsformen werden rund 220 Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und ihre Familien begleitet.