Schulanfang mit Igel-Schultüte: Lucy mit ihrer Mutter Yvonne Hornikel (rechts) und ihrer Großmutter Brigitte Brandmeier Schulanfang mit Igel-Schultüte: Lucy Foto: privat

99 000 Erstklässler im Land fiebern auf die Einschulung hin. Immer mehr Familien zelebrieren sie als Event. Eine Familie aus Gärtringen erzählt anlässlich des ersten Schultags der jüngsten Tochter, wie sie ihren Schulstart in Erinnerung haben.

Gärtringen - Getragen hat sie ihn schon einmal, hat den kastigen Ranzen über die Schultern geschwungen und sich im Spiegel angeschaut: Lucy, das Schulkind. In der ersten Ferienwoche Anfang August lag im Briefkasten von Lucys Familie in Gärtringen ein Schreiben von der Grundschule. Die Klassenlehrerin Frau Maurer freue sich, Lucy von Herbst an in der 1a der Peter-Rosegger-Schule begrüßen zu dürfen. Was in Lucys neuen Ranzen sollte, hat Frau Maurer auch schon mitgeteilt. Ein ganzes Din-A4-Blatt hat sie dafür gebraucht: „Heft Nr. 20, großkariert mit Rand, farbig hinterlegt“, stand da beispielsweise – eine von Dutzenden Schreibwaren, die die Eltern der Sechsjährigen anschaffen sollten. Auch ein Kasten mit Wassermalfarben gehört dazu, bitte von guter Qualität.

Hätte Mutter Yvonne Hornikel nicht vor zwei Jahren bereits ihre erste Tochter Emma eingeschult, wäre sie mit dem Brief ratlos zurück geblieben. „Damals stand ich im Schreibwarenladen wie der Ochs’ vorm Berg. Woher sollte ich wissen, welches das richtige Heft war?“ Ein Angestellter konnte helfen, dort kennt man das Problem.

Ein ganzer Tag an der Nähmaschine für die Schultüte

Bevor der erste Schultag beginnt, gibt es für Lucys Mutter aber noch einiges zu tun: alle Hefte, Stifte, Radiergummis mit Namen beschriften, damit nichts vertauscht wird. Und natürlich die Schultüte: passend zum neuen Ranzen näht Yvonne Hornikel mit der Hilfe ihrer Mutter einen Igel aus Stoff auf die Tüte. Einen ganzen Tag verbringen Mutter und Großmutter an der Nähmaschine, um Lucys Schultüte zu etwas Besonderem zu machen. Inhalt: noch geheim. „Natürlich könnte man das alles fertig online bestellen“, sagt Hornikel.

Jetzt hat Yvonne Hornikel bald zwei Schulkinder, in wenigen Tagen wird es ganz normal sein, morgens zum Küchenfenster hinauszuschauen und zwei große Schulranzen mit dünnen Beinchen darunter die Straße hinunter laufen zu sehen. Ein Bild, das viele Eltern nie vergessen: wie ihr Knirps, mehr Ranzen als Menschlein, hinter der nächsten Häuserecke verschwindet. „Heut hab ich mein Mädel zur Schule gebracht“, heißt es bei dem Dichter Jakob Julius David. „Gar schlimme Gedanken hab ich gedacht: Mein Herzenskleinchen, mein Sonnenscheinchen, nun tust du auf deinen flinken Beinchen aus unsrer überängstlichen Mitte in die schlimme Welt deine ersten Schritte, und bist für immer hingegeben dem bösen Feinde – ich meine das Leben. Lernst früh aufsteh‘n und tausend Pflichten unnütz als nötig Ding zu verrichten. Wir haben dir jede Lüge verwehrt; nun siehst du, wie sie die Welt durchfährt.“

Die Zäsur im Leben der Kinder wollen Eltern ganz bewusst erleben

Nach Schätzungen des Statistischen Landesamtes beginnen in diesen Tagen rund 99 000 Schüler in Baden-Württemberg mit der ersten Klasse in einer öffentlichen oder privaten allgemein bildenden Schule. Für die Familien jedes einzelnen von ihnen ist dieser Moment ein ganz großer. Die Zäsur im Leben ihrer Kinder wollen sie bewusst erleben; deshalb zelebrieren manche die Einschulung als regelrechtes Großereignis.

„Der Trend zu Höherwertigem hat in den vergangenen Jahren zugenommen“, sagt Michael Gomolzig, baden-württembergischer Sprecher des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) und selbst Schulrektor. Manche Kinder hätten ein Smartphone in der Schultüte. Er habe auch schon von aufwendigen Restaurantbesuchen und Partys nach der Einschulung bei einigen Familien gehört. „Manchmal hat man den Eindruck, die Eltern wetteifern, machen es zu einem Event oder Statussymbol: Mein Kind ist besser angezogen.“

Lucys Oma Brigitte Brandmeier erscheint der Aufwand für die Schulanfänger groß. Als sie ihrer Tochter dabei hilft, Lucys Einschulung vorzubereiten, fällt ihr der eigene erste Schultag ein. Das war Anfang Dezember 1966 in Stuttgart-Stammheim: Brigitte mit goldener Schultüte. „Unten war die mit Papier ausgestopft, oben waren ein paar Süßigkeiten drin nur für mich.“ Das Süße hätten Brigitte Brandmeiers sieben Geschwister auch gerne gehabt, aber an diesem Tag ging es nur um sie. Und obwohl das alles aufregend war, sei der Tag ansonsten nichts Besonderes gewesen, erinnert sich Brigitte Brandmeier. „Nach der Kirche hatten wir gleich Unterricht.“ Die Lehrerin hat den Kindern Bilder gezeigt: A wie Affe. Statt Heften und Stiften gab es Kreidetafeln. Brigittes lederner Schulranzen war am ersten Schultag fast leer. Und nach zwei Unterrichtsstunden sind die Kinder nach Hause gegangen. Dort gab es Mittagessen und dann ging es gleich zum Spielen nach draußen – wie immer.

Große Feier in der Turnhalle mit Aufführungen der Zweitklässler

In Lucys Schule in Gärtringen soll es nach einem Gottesdienst eine große Feier in der Turnhalle geben. Die Zweitklässler führen etwas auf, traditionell bereiten die Eltern der Zweitklässler für die Familien der Erstklässler ein kleines vor. Die Lehrer lesen die Namen ihrer neuen Schützlinge vor und nehmen sie gleich mit ins Klassenzimmer: zur ersten Schulstunde ihres Lebens. Manche Eltern können sich dann ein Tränchen kaum verkneifen.

Lucys Gedanken kreisen jetzt immer öfter um ihren bevorstehenden großen Tag. „Mama, neben wem bist du in der ersten Klasse gesessen?“, will sie wissen. Neben Heike, dem Nachbarsmädchen, sagt die Mutter. „Lebt die noch?“, will Lucy wissen. Eltern sind ja Dinosaurier.

Yvonne Hornikel ist 1985 in die Schule gekommen, in dieselbe in Stammheim wie schon ihre Mutter 19 Jahre vorher – sogar mit derselben Klassenlehrerin. Yvonne trug damals kein Kleid wie all die anderen Mädchen, sondern eine braune Cordhose: Sie sieht die ganze Sache pragmatisch. Daher gibt es bei den Hornikels auch jetzt keinen großen Klimbim, wenn die Tochter eingeschult wird. Nach der Feier in der Turnhalle will die Familie zuhause beim Raclette zusammen sitzen, mit Oma, Opa und den Taufpaten – alles so ähnlich wie damals, als Yvonne ihren ersten Schultag feierte.

Säkulare Rituale ersetzen religiöse Rituale

Die Mehrheit der Eltern mache sich liebevolle Gedanken zum ersten Schultag ihres Kindes, glaubt Carsten Rees, Vorsitzender des Landeselternbeirats. Er hält es für nachvollziehbar, dass in einer Zeit, in der religiöse Rituale an Bedeutung verlieren, säkulare erfunden würden. „Die Einschulung ist in vielen Fällen ein großer Schritt von einer unbeschwerten Kindheit ohne Pflichten in Richtung des Erwachsenenlebens. Manche empfinden es wie das Ende der Kindheit.“ Wie eine Familie dieses Ritual gestalte, solle man dieser selbst überlassen. Auch Schulrektor Gomolzig ist überzeugt: „Wenn die ganze Familie zusammen kommt, ist das erstmal etwas Schönes und zeigt dem Kind: Ich bin wichtig.“ Eltern sollten bei der Einschulung einfach das Übertreiben sein lassen und vor allem eines mitbringen: viel Zeit.

„Nicht lesen zu können, ist schon irgendwie doof“, sagte Lucy neulich ganz unvermittelt zu ihrer Mutter. Jetzt wird es Zeit für die Schule, dachte Yvonne Hornikel. Anfang des Jahres noch konnte sie sich kaum vorstellen, wie ihr kleiner Wildfang einen ganzen Morgen lang still sitzen soll. Lucys große Schwester Emma sieht indes ein Problem auf sich zukommen: „Ich werde wohl künftig mein Tagebuch abschließen müssen.“