Aufgeheizte Stimmung: Im Januar 2016 demonstrierten Russlanddeutsche in Lahr gegen Flüchtlinge. Die Polizei und Oberbürgermeister Müller versuchten zu beruhigen. Foto: enba

Bei der vergangenen Bundestagswahl ist die Wahlbeteiligung in der Schwarzwald-Stadt niedriger gewesen als in allen anderen Kommunen in Baden-Württemberg. Seither hat sich einiges getan.

Lahr - Natürlich gehe ich zur Wahl“, sagt die Endsechzigerin, die in der Lahrer Innenstadt ihre Einkäufe erledigt. Der früheren Einzelhandelskauffrau ist „Beständigkeit“ wichtig – deshalb machte sie schon immer von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Die junge Frau, die mit ihrer Tochter auf den Bus wartet, winkt hingegen ab. Sie kenne sich mit Politik nicht aus. Wenn am Sonntagabend die Wahllokale schließen, werden einige in der Schwarzwaldstadt nicht nur auf das Gesamtergebnis schauen und darauf, wer künftig den Wahlkreis Emmendingen/Lahr in Berlin vertreten wird. So mancher ist auch neugierig darauf, wie viele wählen gingen. Schließlich war Lahr bei der Bundestagswahl 2013 mit 58,1 Prozent absolutes Schlusslicht unter den rund 1100 Gemeinden in Baden-Württemberg – 1998 hatten noch 78 Prozent abgestimmt.

Der Gemeinderat suchte nach den Ursachen

Auch bei fast allen anderen Wahlen war die Beteiligung in Lahr in den vergangenen zwei Jahrzehnten rückläufig. Als 2009 nur noch 38,1 Prozent den Gemeinderat wählten, fühlte sich dieser herausgefordert, nach den Ursachen zu forschen und etwas für die politische Bildung zu tun. „Wir haben uns damals gefragt, ob die Kommunalpolitik für viele nicht interessant genug war, weil wir zwischen den Fraktionen relativ wenige harte Auseinandersetzungen hatten“, sagt Wolfgang Müller (SPD), seit 1997 Lahrer Oberbürgermeister.

Wo sich die Nichtwähler befanden, war schnell klar. Rund 11 000 der 47 000 Einwohner sind Russlanddeutsche. Anfang der 1990er Jahre verließen die kanadischen Soldaten Lahr, und in den frei gewordenen Quartieren fanden viele Neuankömmlinge aus dem Osten eine neue Heimat. In den ersten Jahren dankten sie bei Wahlen mit ihren Stimmen vor allem der CDU und dem damaligen Kanzler Helmut Kohl, der ihnen das Tor in den Westen geöffnet hatte. Nach dem Regierungswechsel 1998 gingen viele nicht mehr wählen.

Russlanddeutsche für Engagement begeistern

Um das zu ändern, bewarb sich die Stadt 2012 mit dem Projekt „Viel-Stimmig“ bei der Baden-Württemberg-Stiftung – und bekam Unterstützung. Durch Veranstaltungen in Vierteln mit geringer Wahlbeteiligung und Aktionswochen vor Wahlen sollten Nichtwähler angesprochen werden, Diskussionen und Planspiele in Schulen sollten bei Jugendlichen das Interesse an Politik wecken, sagt der Projektleiter Andreas May. Ziel des vierjährigen Projekts war es auch, die Zugezogenen dafür zu gewinnen, sich mehr in örtlichen Gremien und Parteien, in Vereinen und im Ehrenamt zu engagieren. „Wir wünschen, dass die Russlanddeutschen nicht nur Einwohner sind, sondern Bürger werden, die sich beteiligen“, sagt Müller.