Einkaufen wie in alten Zeiten: Auch Nostalgie spielt im Reformhaus eine Rolle. Foto: Caroline Holowiecki

Die Reformhaus-Branche hat in den vergangenen Jahren gelitten und viel von ihrer Exklusivität eingebüßt. Seit einigen Jahren freut man sich aber wieder über steigenden Zulauf. Wie kommt das? Ein Besuch bei Kaliss in Stuttgart-Möhringen.

Möhringen/Stuttgart - Wer das Reformhaus Kaliss in Möhringen betritt und durch die engen Gänge streift, hat unweigerlich das Gefühl, als ob hier, zwischen Leinsamenöl, Sanddornsaft und Suppenwürze, die Zeit stehen geblieben sei. 1933 wurde das Reformhaus in Möhringen eröffnet, seit den 1950ern sitzt es an der Filderbahnstraße, und bis heute versprüht das Geschäft Tante-Emma-Flair. Corinna Wolf, die Filialleiterin, nickt. „Das kennt man noch aus der Kindheit, da war man mit den Eltern einkaufen“, sagt sie.

Der Laden gehörte einst ihrem Schwiegervater, altershalber gab der ihn 2017 aber ab an Stephan Kaliss. Auch dessen Familie blickt auf eine lange Reformhaus-Tradition zurück. Heute betreibt die Schorndorfer Firma Kaliss ein Dutzend Filialen. „Wir sind kontinuierlich gewachsen“, betont er. In der Vergangenheit habe man mehrere Geschäfte übernommen, deren Nachfolge nicht gesichert gewesen sei.

Zwar sei der Möhringer Standort mit 100 Quadratmetern der zweitkleinste und auch nicht der modernste, doch er laufe gut und ziehe unterschiedliche Kunden an: Schwangere, Veganer, Nachhaltigkeitsfans, Menschen mit Unverträglichkeiten.

Zwei Hauptgründe für den Reformhaus-Schwund

Fakt ist jedoch: Die Branche hat Federn gelassen. Gut 1000 Reformhäuser und Partnergeschäfte, etwa Apotheken, gibt es bundesweit, Mitte der 1980er waren es laut Rainer Plum, dem Vorsitzenden der Reformhaus-Genossenschaft, noch nahezu dreimal so viele gewesen. Auf der Filderebene findet das Internet drei Läden. Neben Kaliss in Möhringen sind das Vitalia-Filialen in Sillenbuch und in Vaihingen. Vitalia ist die größte deutsche Kette. Sie musste 2009 Insolvenz anmelden. Im Zuge des Verfahrens wurden etliche Filialen geschlossen. Heute gibt es laut der Firmenhomepage noch 87.

Während Vitalia jede Kommunikation mit der Presse ablehnt, nennt Rainer Plum für den Reformhaus-Schwund zwei Hauptgründe. Zum einen seien Biomärkte, aber auch der konventionelle Handel nach und nach in den Markt gestoßen. Bio, vegan, vegetarisch, glutenfrei – „das war mal das Alleinstellungsmerkmal der Reformhäuser“, heute gibt es solche Produkte in Discountern und Drogerien. Bis Anfang des Jahrtausends gab es zudem etliche Produkte ausschließlich in Reformhäusern. Ein bekanntes Beispiel sind Rotbäckchen-Säfte. „Viele Hersteller haben Exklusivverträge gekündigt. Denen wurde der Markt zu klein“, erklärt Rainer Plum. Auch das habe Kunden gekostet.

Trendwende zeichnet sich ab

Hinzu kommt: Mit dem frischen Look der neuen Biomärkte konnten viele der Traditionsgeschäfte nicht mithalten. Alles in allem spricht er von einem „Schock, mit dem man fertig werden musste. Das hat eine Zeit lang gebraucht, sich damit auseinanderzusetzen“.

Doch Rainer Plum spricht von einer Trendwende. Seit Anfang der 2010er Jahre gehe es bergauf. Viele Geschäfte hätten sich mit Standortinvestitionen, mit Social-Media-Auftritten, Online-Shops und Sortimentserweiterungen neu aufgestellt. „Letztes Jahr hatten wir ein Umsatzplus von 3,1 Prozent für die ganze Branche“, sagt er, der Branchenumsatz habe bei knapp 700 Millionen Euro gelegen.

Die Kaliss-Häuser beispielsweise nutzen in einer Marketing- und Einkaufsgemeinschaft Synergien. Sechs der zwölf Filialen sind moderne Kombinationen aus Reformhaus und Biomarkt und verkaufen Obst, Gemüse und mehr Frisches. Der Markt in Möhringen habe grundsätzlich aufgrund der Kundenzahlen auch das Potenzial, aber nicht die nötige Fläche, sagt Stephan Kaliss.

„Was unten in der Stadt fehlt, haben wir in Möhringen mehr“

Für dieses Jahr rechnet Rainer Plum gar mit einem Umsatzplus von acht bis zehn Prozent. Der Grund: Corona. Laut Stephan Kaliss profitieren vor allem die Reformhäuser in den Randlagen. „Das, was unten in der Stadt fehlt, haben wir in Möhringen mehr“, sagt er. Die Kunden bevorzugten kurze Wege. Effekt: In diesem Jahr sei der Umsatz in der Filiale an der Filderbahnstraße zweistellig gewachsen. Vor allem Produkte zur Stärkung des Immunsystems boomten, „das ist ein Riesenthema“, sagt er. In einer Zeit der großen Unsicherheit könne man mit eingehender Beratung punkten und Orientierung geben, und möglicherweise trifft der Gute-alte-Zeit-Charme gerade jetzt einen Nerv.

Rainer Plum jedenfalls bestätigt, dass viele Kollegen während der Krise großen Zulauf haben, und das liege unter anderem an der Kompetenz der speziell ausgebildeten Reformhausfachberater. Er sagt: „Wir sind einfach das Original, dem vertrauen die Kunden.“