Qualifizierte Asylbewerber warten oft monatelang, bis sie hier ein Studium beginnen können. Markus Kreßler will das ändern – und hat dafür eine neue Universität gegründet. Foto: Kiron University/Viktor Strasse

Deutschland hat viele Flüchtlinge und zu wenig Fachkräfte. Doch für qualifizierte Asylbewerber dauert es oft Monate, bis sie hier ein Studium beginnen können. Die Kiron University, eine neue Hochschule für Flüchtlinge, soll das ändern – mit Online-Kursen in den ersten zwei Studienjahren. Klappt das?

Berlin - Statt Bücher: Bomben. Mit dem Bürgerkrieg brachen sie über Muhammad Al Zeen und seine Familie herein. Noch zwei Semester fehlten dem Syrer zu seinem Uni-Abschluss in Englisch, als 2011 die Demonstrationen gegen das Assad-Regime begannen. Statt an die Uni ging Al Zeen auf die Straße. „Du kannst nicht einfach weiter studieren, wenn um dich herum Menschen getötet werden“, sagt der junge Mann, die schwarzen Haare zum Pferdeschwanz zusammen gebunden. Nachdem die Polizei bei einer Festnahme seine Adresse aufgenommen hatte, war klar: In Syrien kann er nicht bleiben. Mehr als zwei Jahre dauerte die Flucht nach Deutschland. Sein Ziel hat Al Zeen nie aus den Augen verloren: Die Bomben wieder gegen Bücher einzutauschen. „Seit fast vier Jahren ist mein Studium unterbrochen“, sagt der 25-Jährige. „Ein Abschluss ist mir wichtig, um endlich ein normales Leben zu beginnen.“

Al-Zeen ist kein Einzelfall. Rund jeder dritte Asylbewerber über 20 Jahren gab in einer aktuellen Umfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an, zu Hause Universität, Fachhochschule oder Gymnasium besucht zu haben. An der freiwilligen Umfrage nahmen rund 105 000 Menschen teil. Die Umfrage ist nicht repräsentativ. Dennoch ist die Hoffnung groß, dass Flüchtlinge den Fachkräftemangel lindern und die Rentenkasse stärken könnten. Allein in Baden-Württemberg fehlen nach IHK-Angaben bis 2030 jährlich rund 15 000 akademische Fachkräfte.

Hürden für ein Studium: Fehlende Dokumente und Sprachprobleme

Schnell an die Uni zu kommen, ist für Flüchtlinge aber schwierig. Die größten Hürden: Fehlende Dokumente, Geldmangel, Sprachprobleme. Etwa ein Jahr dauert es, das erforderliche Sprachniveau zu erreichen, schätzt das Forschungsministeriums des Landes.

Zudem verlangen die meisten Hochschulen in Deutschland Semestergebühren – in etwa zwischen 100 und 300 Euro pro Semester. Knapp 400 Euro monatlich betragen zusätzlich die Lebenshaltungskosten für Studenten laut des deutschen Studentenwerks – Miete und Krankenversicherung nicht mit eingeschlossen. Aber Asylbewerber wie Al Zeen, deren Antrag noch läuft und die noch keine 15 Monate in Deutschland sind, haben monatlich nur 216 Euro zur Verfügung – Unterbringung und Gesundheitskosten werden extra getragen. Wer als Flüchtling anerkannt wird, erhält zwar Bafög. Aber auf diese Entscheidung hat Al Zeen rund zehn Monate gewartet, sagt er.

Online-Kurse könnten Studieren billiger machen

So sind qualifizierte Asylbewerber oft monatelang zum Warten verdammt. Markus Kreßler und Vincent Zimmer wollen dieses Problem lösen. Ihre neuen Flüchtlings-Uni namens Kiron University soll Asylbewerbern schneller ein Studium ermöglichen. Die Idee: In den ersten zwei Jahren belegen Studenten Online-Kurse auf Englisch. Solche Kurse – sogenannte Moocs – werden seit einigen Jahren vorwiegend von Universitäten in den USA angeboten. Befürworter wie der „New York Times“-Journalist Thomas Friedman feiern Moocs als Hochschulrevolution, unter anderem, weil sie Studieren billiger machen könnten. Das Kiron-Team kalkuliert mit 400 Euro Kosten pro Student pro Jahr. 6870 Euro pro Jahr gibt der Staat nach jüngsten Zahlen für einen Studenten an regulären Hochschulen aus.

Erst im dritten Jahr wechseln Kiron-Studenten an eine gewöhnliche Uni, die mit Kiron eine Partnerschaft eingegangen ist. So bleiben Flüchtlingen in der Zwischenzeit zwei Jahre, um Deutsch zu lernen und falls nötig die Abiturprüfung nachzuholen. Acht Hochschulen machen bislang mit – im Südwesten die Hochschule Heilbronn. „Der Ansatz von Kiron, die Einstiegsschwellen zu senken und Flüchtlingen eine sinnvolle Beschäftigung zu bieten, hat uns sehr gefallen“, sagt Bettina Merlin, Professorin an der Hochschule Heilbronn.

Der erste Kiron Jahrgang: 1000 Studenten starteten Mitte Oktober

Muhammad Al Zeen ist einer von 1000 Studenten, die am 15. Oktober an der Kiron Uni angefangen haben. Fünf Studiengänge sind geplant: Wirtschaft, Ingenieurwesen, Architektur, Informatik und Kulturwissenschaften. Der erste Jahrgang absolviert derzeit ein Studium Generale mit einem Mix aus verschiedenen Moocs. Damit orientiert sich Kiron am US-amerikanischen System: Dort müssen sich Studenten auch nicht gleich am Anfang, sondern erst im Laufe des Studiums auf eine bestimmte Fachrichtung festlegen. Ab dem zweiten Jahr sollen Kiron-Studenten sich in ihrer Fachrichtung spezialisieren. Dann erhalten sie Listen mit erforderlichen Online-Kursen von den Partnerunis: So wissen die Studenten, was sie abarbeiten müssen, um im dritten Jahr zu einer bestimmten Partner-Uni zu wechseln.

Die Gründer von Kiron ernten aktuell viel Anerkennung. Bei einer Spendensammelaktion im Internet haben sie eine Viertelmillion Euro eingeworben. Peter Altmaier, Flüchtlingskoordinator der Regierung, kam zu einer Eröffnungsfeier. Doch der Alltag von Al Zeen zeigt: Zwei Jahre Online-Studium, nebenher Deutsch lernen – das könnte zur Herausforderung werden. Moocs werden oft für ihre hohe Abbruchrate kritisiert: Von denen, die sich einschreiben, beendet nur etwa jeder zehnte den Online-Kurs. So das Ergebnis von Journalisten des „Wall Street Journals“. Ein möglicher Grund dafür: Studenten fühlen sich isoliert, weil sie alleine zu Hause vor dem Bildschirm büffeln.

Flüchtlinge sollen deutsche Studenten kennen lernen

Um das zu vermeiden, gibt es an der Kiron University Hilfe von Mentoren und ein Programm, dass Flüchtlinge und deutsche Studenten zusammen bringt. Trotzdem ist Al Zeen ist mit seinem Stoff einige Wochen nach dem Start hinterher. Für den Anfang hat er sich bei fünf Moocs angemeldet, zum Beispiel Linguistik und Astronomie. Eigentlich will Al Zeen Englischlehrer werden. Dafür hat er in Syrien studiert. Doch ein Lehramtsstudium ist an der Kiron Uni derzeit nicht möglich. Deshalb will Al Zeen dort ein Wirtschaftsstudium machen – als Plan B, weil er damit auf gute Jobchancen in Deutschland hofft. Nebenbei träumt er davon, es irgendwann an eine reguläre Uni zu schaffen – und doch noch Lehrer zu werden.

Für die Online-Kurse, die er jetzt belegt, hat Al Zeen rund sechs Wochen Zeit. Aber sein Leben ist derzeit voller Ablenkungen. Vor wenigen Tagen wurde über seinen Asylantrag positiv entschieden. Jetzt hat er alle Hände voll mit Papierkram zu tun: Zum Beispiel bei der Ausländerbehörde einen Ausweis beantragen und sich beim Integrationskurs anmelden. Außerdem übersetzt Al Zeen für andere Flüchtlinge. Viele Aufgaben – und viel Ablenkung vom Online-Studium.

Studieren unter besonderen Bedingungen

Alleine studieren, zu Hause vor dem Computer – wie viel Konzentration das erfordert, merkt auch Alaa Abo Aoun. Er ist ebenfalls aus Syrien geflüchtet und will an der Kiron Uni Informatik studieren. Seine Mutter in Syrien ist krank, der Kontakt schwierig. „Wenn ich mit ihr reden will, kann ich mich manchmal nicht konzentrieren“, sagt Aoun. Obwohl er nach sieben Monaten in Deutschland fließend Deutsch spricht, kann Aoun sich nicht an einer regulären Uni einschreiben. Denn für die erforderliche Sprachprüfung ist er erst im März angemeldet.

Vom Warten aber haben Aoun und Al Zeen genug. Beide sind schon vor Monaten geflohen. Werden sie das Online-Studium durchhalten? Eigentlich wollen beide an eine normale Uni. Bis das klappt, gibt Kiron ihnen Hoffnung, dass die Tür zum Hörsaal doch nicht so fest verschlossen ist, wie gedacht. „Deutschland hat mir eine gute Chance gegeben“, sagt Aoun zum Abschied. „Ich möchte mich bei Deutschland bedanken.“