Menschen lieben Werbung, weil sie ihnen ein schöneres Leben verspricht. Deshalb gibt die Reklame aus den Zwanzigerjahren in Stuttgart ganz neue Einblicke.
Wenn sie etwas kann, so die Fantasie köstlich kitzeln. Man sieht förmlich sich selbst Likör schlürfen am oder in der Luxuslimousine durch die Stadt brausen. Werbung macht uns Menschen schöner und jünger – und das Leben irgendwie würdiger. Obwohl man weiß, dass hier jemand in Wahrheit nur an unseren Geldbeutel will, wecken die Versprechungen der Werbung die süße Vorstellung, dass man sein Ich mit diesem oder jenem Produkt aufwerten könnte.
Auch vor hundert Jahren wird es den Menschen, die in und um Stuttgart herum lebten, kaum anders gegangen sein. Die junge Frau, die im langen Abendkleid auf der Terrasse sitzt und verträumt in den blitzenden Sternenhimmel schaut, machte nicht nur Werbung für ein Auto, sondern erzählte von einem ganz neuen Lebensgefühl der modernen Frau, die nun auch selbst am Steuer sitzt, um zur nächsten Cocktailparty zu fahren. Der Slogan: „Der Stern ihrer Sehnsucht: Mercedes-Benz“. Entsprechend strahlt am Nachthimmel nicht der Mond – sondern der Mercedes-Stern.
Wie tickten die Stuttgarter von damals?
Inzwischen haben Werbepsychologen gründlich die Seele ihrer Opfer durchleuchtet. Ausgetüftelte Strategien wie „Picture, Promise, Prove, Push“ sollen an Marken binden und zum Kauf verführen. Werbung, das weiß man längst, muss kurz, knackig und eingängig sein und direkt unsere Gefühle ansprechen. Deshalb würde man den Gestalter vermutlich kurzerhand auf die Straße setzen, der vor hundert Jahren auf eine Anzeige von Mercedes einen ungewöhnlich langen Text schrieb, den manche Menschen heute wohl nicht mal mehr auf Anhieb begreifen: „Distinktion: Jene undefinierbare Eigenart, die sich nicht kopieren lässt, die einfach da ist als Kennzeichen höchster Vollendung und letzten Schliffes. Sie ist das Merkmal des Mercedes-Wagens“.
Hat sich die Kundschaft vor hundert Jahren von solchen Botschaften überzeugen lassen? Wie tickten die Stuttgarterinnen und Stuttgarter damals? Davon kann man sich einen Eindruck verschaffen in einer Ausstellung im Museum „Muse-O“ in Stuttgart-Gablenberg, die sich mit der Werbegrafik der 1920er Jahre in Stuttgart befasst. Die zwanziger Jahre üben bis heute eine besondere Magie aus, auch die Wissenschaft hat sich ihr schon in zahllosen Büchern gewidmet.
Die Gebrauchsgrafik der Zeit aber, also die Plakate, die an den Kreuzungen und Straßen auf Litfaßsäulen hingen, die Inserate, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, sie seien kaum erforscht. Das zumindest meint Ulrich Gohl. Er ist Historiker und hat lange als Journalist in Stuttgart gearbeitet. Inzwischen leitet er das kleine, ambitionierte Muse-O, sitzt aber auch seit mehreren Jahren an einem Buch über die Zwanzigerjahre in Stuttgart. Bei der Lektüre hierzu stellte er fest, wie wenig bisher über die Reklame dieser Zeit bekannt ist.
Das wollten Gohl und Martin Ehmann ändern und haben selbst recherchiert für ihre Ausstellung „Reklame!!!“ – denn vor hundert Jahren sprach man selbstverständlich von Reklame. Ein gängiger Begriff, „der aber 1933 in Verruf geriet“, wie Gohl erklärt, „weil man Reklame mit jüdischen Kaufhäusern in Verbindung brachte“. Fortan wurde in Deutschland Werbung gemacht, deutsche Werbung. Statt mondäner Frauen, die Auto fuhren, zeigte man lieber tüchtige Hausfrauen, die blonde Kinder mit rosigen Wangen aufzogen. Es war Schluss mit künstlerischer Gestaltung und formalen Experimenten.
Abstrakte Kunst auf Plakaten? Heute undenkbar
Kosbü Optik warb um 1920 dagegen mit einer abstrakten Kreidezeichnung, bei der der Gestalter Theodor Paul Etbauer zwischen gelben und blauen Bögen ein Auge schematisch andeutete. Werbung musste eben noch nicht so marktschreierisch daherkommen wie heute, weil die Menschen noch nicht unter Reizüberflutung litten. Die Plakate und Anzeigen zeigen, wie nah Gestaltung an der Bildenden Kunst war. Da die Fotografie erst Ende der Zwanziger in der Werbung Einzug hielt, wurde bis dahin von Hand gezeichnet und gemalt und griffen die Werber gern auch auf abstrakte Symbole zurück. Uri Levoi, der von seinem Onkel die „Lithographische Anstalt“ am Stuttgarter Leonhardsplatz übernommen hatte, bewarb die süddeutsche Textilmesse zum Beispiel mit einem spitzen grünen Dreieck und einem roten Halbkreis. Heute undenkbar.
In Stuttgart jagt eine Messe die nächste
Die Stuttgarter scheinen seinerzeit ein durchaus aktives Völkchen gewesen zu sein. Da man sich die Welt noch nicht über Computer und Fernsehen nach Hause holen konnte, trieb es die interessierte Bürgerschaft hinaus in Ausstellungen und Messen. Es wurde reichlich geboten: Buchmesse, Möbelmesse und landwirtschaftliche Wanderausstellung, Textil- und Bekleidungsmesse, Technische Tagungswoche und Motorrad-Sport-Ausstellung.
Ständig war etwas los in Stuttgart, das selbst warb, „Deutschlands schönstgelegene Großstadt“ zu sein. Auf einem Buchcover von 1929 wird Stuttgart sogar angepriesen als „ein unterhaltsamer Begleiter für In- und Ausländer“ – und Helmut Schwarz hat hierzu eine Lithografie beigesteuert, die die Stadt aus der Vogelperspektive in den Blick nimmt mit drei markanten Bauten: Bahnhofsturm, Stiftskirche und Tagblatt-Turm. Apropos Bahnhof: Der Bonatzbau taucht immer wieder als Wahrzeichen der Stadt auf, bei einer Werbung fürs Volksfest hängen Brezel, Bierkrug und Wein lustig wie eine Girlande am Turm.
Wer Geld hat, reist mit dem Doppelschraubendampfer
Der See vor der Stuttgarter Oper ist damals noch rund, in der Mitte sprudelt eine Fontäne. Die Menschen informieren sich im Stuttgarter Neuen Tagblatt, der „großen Heimatzeitung“ über das, was wichtig und in der Stadt geboten ist. Oder auch im Schwäbischen Merkur, dem „Blatt der Schwaben“. Wer es sich leisten kann, bucht „Orient- und Mittelmeerfahrten mit dem Doppelschraubendampfer“, für die die Norddeutsche Lloyd Bremen wirbt.
In den 1920er Jahren kaufen die Stuttgarter keineswegs mehr Kondensmilch oder Mehl – sondern Bärenmarke und Aurora. Die Idee von Marken gab es schon in der Antike, in der Handwerker bereits persönliche Zeichen oder Siegel auf ihren Werken hinterließen. Mit der Industrialisierung gewinnen Marken aber rasant an Bedeutung. Dank der Massenproduktion können sich nun auch breitere Bevölkerungsschichten immer mehr Produkte leisten. Außerdem beginnen immer mehr Unternehmen, ihre Waren weltweit zu verkaufen. Da ist die Marke ein wichtiges Werkzeug, um sich von anderen Herstellern abzugrenzen.
Sorgsam bedenken: Praktisches schenken!
Trotz dieses wachsenden Welthandels kaufen die Stuttgarter vor hundert Jahren vor allem das, was in ihrer Stadt produziert wird: Strickwaren aus Zuffenhausen und Staubsauger von Mauz und Pfeiffer in Botnang. Man raucht Zigarren von Wallruth und trägt „Benger’s Ribana“. Die Degerlocher Textilfabrik war der Vorläufer des noch existierenden Modegeschäfts Maute-Benger und warb seinerzeit mit dem Slogan „Sorgsam bedenken: Praktisches schenken“.
Eine eigene Handschrift hatte die Stuttgarter Reklame der Zwanziger wohl nicht, meint Ulrich Gohl – während man bis heute etwa von der Münchener Schule spreche. Gestalter gab es dennoch. Gohl hat bei seiner Recherche die einschlägigen Zeitschriften durchforstet und eine Liste von 25 Namen von Grafikern erstellt, die in Stuttgart studierten. „Die meisten haben der Stadt danach aber den Rücken gekehrt.“
In der Ausstellung haben Ulrich Gohl und Martin Ehmann fünf Gestalter ausgewählt und versucht, die Eckdaten ihrer Biografien zusammenzutragen. Robert Henry etwa, 1894 in Göppingen geboren, betrieb ein Atelier in der Danneckerstraße und machte sich einen Namen mit dezent erotischen Zeichnungen für Hautana-Büstenhalter. Damit habe er „einen neuen Stil“ geschaffen, wie ein Kritiker 1928 konstatierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Robert Henry lange Vorsitzender des Verbands bildender Künstler in Baden-Württemberg, er starb 1970 in Stuttgart-Sillenbuch.
Sogar ein Foto von Robert Henry konnten die Kuratoren auftreiben, es stammt aus Henrys Passantrag aus dem Jahr 1927, der noch im Staatsarchiv Ludwigsburg liegt. So bringt die Ausstellung im Muse-O zumindest etwas Licht in dieses Kapitel Stuttgarter Geschichte, das noch lange nicht vollständig aufgearbeitet ist. Dabei erzählt die hundert Jahre alte Reklame keineswegs nur etwas über die Menschen damals, sondern macht auch bewusst, was heute selbstverständlich scheint – zum Beispiel, dass man alte Autoreifen einfach wegwirft, statt von einer „großen Ersparnis“ zu profitieren durch „rechtzeitiges Neugummieren der Reifen“.
Die Schau ist bis 16. April im Alten Schulhaus, Gablenberger Hauptstraße 130, zu sehen. Geöffnet: Samstag und Sonntag, 14 bis 18 Uhr.