Jutta-Beate Schmidt (links) umarmt ihre Freundin Joyce Lynn Holcomb. Das Foto ist 2013 in New Orleans entstanden. Foto: privat

Jutta-Beate Schmidt aus Stuttgart und Joyce Lynn Holcomb aus Olla im US-Staat Louisiana schreiben sich seit mehr als 60 Jahren Briefe. Über Kontinente, Ehen, Attentate, Kriege und Krisen hinweg halten sie zusammen.

Stuttgart/Olla - Meine Güte, wir kennen uns schon ewig“, sagt Jutta-Beate Schmidt über ihre Freundin Jocye Lynn Holcomb. Sie mögen sich innig, schwärmen herzlich voneinander, kichern über Shirts zu Weihnachten mit einer wichtigen Freundschaftspflegeaussage – „It’s always coffeytime“ (Zeit für einen Kaffee ist immer). Sie verstehen sich schweigend, wissend, was die jeweils andere für einen Höllentrip hinter sich hatte, bis die Scheidung durch war. Gesehen haben sich die zwei nur fünf Mal. Die Frauenfreundschaft, die nun schon mehr als 60 Jahre dauert, hat so viele (Ge-)Schichten. Und sie erzählt wie nebenbei die Geschichte Deutschlands und der USA nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Im Februar 1942 knistert die erste Sendung der Voice of America, also der Stimme Amerikas, aus deutschen Radios. Vom amerikanischen Büro für Kriegsberichterstattung gegründet, werden spezielle Hörfunkprogramme für das von Deutschland besetzte Europa und Nordafrika produziert. Über Anlagen in England wird auch ein deutschsprachiges Programm ausgestrahlt. Man will der deutschen Kriegspropaganda etwas entgegensetzen. Zunächst basteln zwei Redakteure und eine Sekretärin aus Zeitungsmeldungen ein kleines Hörfunkprogramm für die Deutschen in Europa und den USA. In Deutschland ist es bis Kriegsende natürlich streng verboten, die sogenannten Feindsender aus Übersee oder England zu hören.

Nach 1945 scheint der Zweck des Senders eigentlich erfüllt zu sein. Aber der Beginn des Kalten Krieges lässt dann die Stimme Amerikas immer weiter Richtung Osten schallen. Und auch der Rest der Welt bekommt Sendungen über den Fortschritt und die Größe Amerikas zu hören – auf Deutsch und Englisch. Man ist auch am Austausch interessiert. Die Stimme Amerikas will Antworten aus Deutschland: Kinder aus beiden Ländern werden Ende der 1940er Jahre aufgefordert, Brieffreundschaften zu gründen.

Eine Adresse in Louisina

„Das hörte meine Mutter. Und weil wir Bremer immer schon offen waren für die weite Welt, regte sie mich dazu an, mich zu melden“, erzählt Jutta-Beate Schmidt. Nach kurzer Zeit erhält das Mädchen eine Adresse aus Louisiana, aus einem kleinen Nest namens Olla. Heute leben dort 1200 Menschen, darunter eine Frau, die noch nie von dort weg war und noch immer in ihrem Geburtshaus wohnt: Jocye Lynn Holcomb.

Am Anfang schreiben sich die beiden Neunjährigen einfache Briefe mit einfachen Fragen. „Wie geht es Dir? Was machst Du gerade? Wie ist die Schule? Welche Hobbys hast Du?“ Kleine Mädchen ohne große Sorgen, trotz der Nachkriegswehen. Sie schreiben sich auf Englisch. So ist es bis heute mit Ausnahmen wie „auf Wiedersehen“ und „Kindergarten“geblieben.

Jutta-Beate Schmidt kommt aus einer wohlhabenden Familie, wächst behütet auf. Ihre Eltern haben einen mittelständischen Betrieb. Die Mutter, ihre enge Vertraute, ist zu Hause, es gibt ein Dienstmädchen. Jutta-Beate macht Abitur, absolviert eine Schule für Auslandskorrespondentinnen, lernt Spanisch und Englisch. Dann verliebt sie sich Hals über Kopf. Obwohl die Eltern nicht begeistert sind, zieht sie schließlich mit ihrem Ehemann, einem Boschler, gen Süden zur Untermiete bei Witwe Brösamle. „Ich dachte, hier bleibe ich keine zwei Wochen“, sagt sie und schlägt die Hände zusammen.

Jutta Schmidt bleibt, bekommt zwei Kinder. Aber es geht ihr nicht gut. Das liegt vielleicht auch an den Schwaben, deren Mundart sie heute zwar gut versteht, die ihr aber immer ein bisschen fremd geblieben sind. Vor allem aber lebt Jutta-Beate Schmidt in einer unglücklichen Ehe. Sie mag nicht viel von dieser Zeit erzählen. Nur ganz zögerlich, als wolle sie die Erinnerungen an einen Rosenkrieg nicht mehr in ihr Herz lassen, äußert sie sich. Da geht es um Dominanz, Misstrauen, Vorschriften.

Auch Lynns Ehe ist nicht von Dauer

Ihre Freundin Joyce Lynn, die als Highschool-Lehrerin arbeitet, erlebt dasselbe fast zur selben Zeit. Sie hat drei Kinder, auch ihre Ehe ist nicht von Dauer. In dem kleinen Südstaatennest im konservativen Louisiana ist das sicher noch eine Spur härter zu verkraften als in einer Großstadt wie Stuttgart, wo einen zwar die unmittelbare Nachbarschaft strafend anstarren kann, aber nicht jeder über die Affäre des Gatten Bescheid weiß. Vielleicht liegt darin das Geheimnis dieser Freundschaft: zur rechten Zeit einen Brief mit verständnisvollen Zeilen zu bekommen. Tausende Kilometer liegen zwischen Jutta und Joyce. Im Herzen sind sich nah. Das Leben lässt sie die gleichen Wege gehen.

Und wenn man eine Freundin hat, die einen liebt, wie man ist, die Mitgefühl zeigt, wenn man davon schreibt, wie man sich mal wieder gestritten oder sich in Tränen fast aufgelöst hat, verzweifelt, weil man nicht weiß, wie lange man noch stark sein kann, dann ist das einfach unbezahlbar. Es rettet einen an manchen Tagen. „Oh, mein Gott“, sagt Jutta-Beate Schmidt, „wir wissen so viel voneinander.“ Sie weint und lacht zugleich bei diesen schönen und schmerzlichen Erinnerungen an ihre Freundin und an ihr eigenes Leben.

Vielleicht liegt es auch daran, dass zwischen Stuttgart und Olla Briefe, später auch E-Mails, hin- und hergehen. Fast wie Tagebücher werden Seiten mit dem Erlebten gefüllt. So vieles wird dabei verarbeitet, weil man beim Denken und Formulieren eben noch mal fühlen, aber dann auch loslassen kann. Für Jutta-Beate Schmidt sind das Schreiben wie das Lesen auch reinigende Prozesse: Sie hat nur einzelne Briefe und Karten aufgehoben, gelesene E-Mails werden gleich wieder gelöscht.

Bei jedem Anruf fließen die Tränen

Anfangs verdienen die Post- und Telefonunternehmen viel Geld mit der Freundschaft. „Aber irgendwann haben wir beschlossen, nicht mehr zu telefonieren“, sagt Jutta-Beate Schmidt. Bei jedem Anruf fließen die Tränen, die Stimme der Freundin rührt die andere so sehr, dass kein Gespräch mehr möglich ist. Auch wenn es mal okay war, für 20 Minuten Heulen 25 Mark zu bezahlen – das brauchten sie nicht.

Erst nach ihrer Scheidung, im Jahr 1992, macht sich Jutta-Beate Schmidt auf den Weg in die USA. Dabei ist sie sehr unternehmungslustig und neugierig und hat inzwischen schon mehr als die halbe Welt bereist. Die Wände im Flur ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnung sind voller Souvenirs aus aller Herren Länder, zieren Dutzende Fotos – von jeder Reise eines. Von europäischen Hauptstädten wie Wien oder Rom, aber auch von Kenia, Andalusien, Indien, Peru, Myanmar. Auch über ihre Reisen schreibt Jutta-Beate Schmidt, die nicht verraten will, wann genau sie Geburtstag hat, leidenschaftlich gerne. Schon seit dem Tod des Vaters Mitte der 1970er Jahre sucht sie mit ihrer Mutter das Weite. Der Kessel ist ihr zu eng. Kein Meer, nicht mal das Schwäbische sieht man.

Die Lust am Reisen teilt Joyce Lynn Holcomb nicht mit ihrer Freundin. Sie hat große Flugangst und übersteht gerade so eine Kurzstrecke zu ihren drei Söhnen innerhalb der USA. So bleiben die Besuche immer einseitig. An ihre erste Begegnung erinnert sich Jutta-Beate Schmidt gut: „Das Gefühl war unbeschreiblich. Sie kam auf mich zu, zart und klein, und wir lachten uns an. Ihr zweiter Ehemann, eine echte Sambakugel aus den Südstaaten, stand vor mir und sagte: ,Hi, I am Don for you.‘“ Es gibt kein Eis, das zu brechen wäre. 40 Jahre Leben sprudeln nur so aus ihnen heraus. Die zwei verleben fünf gemeinsame Tage. „Länger bleibe ich nie. Denn wir Hanseaten wissen, spätestens dann fängt der Fisch zu stinken an“, sagt Jutta-Beate Schmidt. Bei den Besuchen reisen die Freundinnen nach New Orleans. „Ach, wir zogen durch die Jazzkeller dieser pulsierenden Stadt. Das war herrlich.“

„The terror ist here“

Bei einem ihrer weiteren Besuche hat der Hurrikan Katrina gerade New Orleans in eine Wasserwüste verwandelt, Tausende Menschen sind obdachlos. „Joyce war nicht direkt betroffen, obwohl Olla nur 300 Meilen entfernt ist. Aber natürlich war die gesamte Region in heller Aufregung, weil viele Verwandte oder Freunde dort hatten“, erzählt Jutta-Beate Schmidt.

Der erste Irakkrieg erschüttert Joyce Holcomb ganz persönlich: Ihr ältester Sohn, Soldat bei der amerikanischen Armee, kommt schwer traumatisiert zurück – wie gut ein Dutzend anderer junger Männer aus Olla. Das sei für ihre Freundin eine ganz harte Zeit gewesen, sagt Jutta-Beate Schmidt. Zum Glück sei der Sohn wieder auf die Beine gekommen und könne heute ein gesundes Leben führen.

Am 11. September 2001 kommt bei Joyce die Angst zurück. Jutta-Beate Schmidt sieht die Fernsehbilder der einstürzenden Zwillingstürme des World Trade Center an ihrem Arbeitsplatz beim Diakonischen Werk. Alle Mitarbeiter werden damals umgehend nach Hause geschickt. Dort nimmt sie sofort Kontakt mit ihrer Freundin auf, die nur sagt: „The terror is here.“

Während Jutta-Beate Schmidt von diesen Ereignissen erzählt, über die die ganze Welt berichtet hat, sagt sie beiläufig: „Über Politik haben wir eigentlich nie viel geredet. Unsere Familien standen im Mittelpunkt.“ Die Geschichte der zwei Frauen zeigt: Man muss nicht über Politik reden, um von ihr betroffen zu sein. Persönliche Schicksale geschehen trotzdem oder deswegen – Politik geht jeden etwas an.

Der jüngste Besuch könnte auch der letzte gewesen sein

So etwas wie eine Krankenversicherung hätte Joyce Lynn Holcomb gerne gehabt, als ihr erster Mann mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus liegt und die Klinik 20 000 Dollar Cash sehen will. Sie hätte sich nichts sehnlicher gewünscht als Obamacare. „Aber dafür müssen die Amerikaner einen Kredit auf ihr Haus aufnehmen“, sagt Jutta-Beate Schmidt.

Mit Donald Trump können beide Frauen nichts anfangen. Joyce Holcomb halte ihn für einen Clown. „Aber das sagt sie nicht amüsiert, zum Lachen ist ihr nicht.“ Joyce sei erzürnt darüber, dass in einem Land mit mehr als 300 Millionen Einwohnern am Ende Clinton und Trump übrig blieben. „Sie fragt sich: Hat Amerika nicht mehr zu bieten?’“ Jutta-Beate Schmidt ist seit 17 Jahren Parteimitglied. „Treue, Verlässlichkeit, Korrektness sind Werte meiner FDP. Die galten auch immer für mich.“

Ob sie noch einmal amerikanischen Boden betritt, weiß sie nicht. Der jüngste Besuch im Jahr 2013 könnte vielleicht der letzte gewesen sein. „Ich habe damals vor dem Rückflug in Monroe auf dem Flughafen Kaffee für uns drei geholt. Danach habe ich die zwei fast weggeschickt. Abschiednehmen tut so weh.“