In den 60ern waren jeden Montag bis zu 1300 Menschen damit beschäftigt, in angemieteten Sälen die Lottoscheine mit den Gewinnzahlen abzugleichen Foto: Archiv Lotto BW

2,4 Millionen Menschen spielen jede Woche in Baden-Württemberg Lotto bei der staatlichen Gesellschaft. Deren Sitz in Stuttgart birgt jede Menge Geschichten über eine Branche im Wandel.

Stuttgart - Es sind die ganz besonderen Momente, die Marion Caspers-Merk mit ihren Kunden teilen darf. Als Großgewinner gilt beim staatlichen Lotto, wer mindestens 100 000 Euro kassiert. Solche Glückspilze werden in die Stuttgarter Zentrale von Lotto BW eingeladen. Und wer es per Tippschein gar zum Millionär geschafft hat, wird von der Geschäftsführerin persönlich empfangen. „Das sind wirklich schöne Gespräche“, sagt sie und lächelt.

Zehn Mal ist das in diesem Jahr bereits passiert. Und nicht immer laufen die Treffen wie gedacht. „Einmal hat eine Frau ihren Partner mitgebracht. Der wusste von gar nichts. Als er von dem Gewinn erfahren hat, wurde er ganz bleich und musste sich erstmal setzen“, erzählt Caspers-Merk. Wenn erfolgreiche Tippgemeinschaften anrücken, wird’s schon mal eng im Zimmer. Nur eines passiert nie: „Mit dem nagelneuen Lamborghini fährt hier keiner vor.“ Die Gewinner im Land seien bodenständig, die Wünsche ganz reell: „Eine Reise machen, das Häuschen abbezahlen, den Kindern etwas geben.“ Und allen rate man stets: Den Gewinn nicht an die große Glocke hängen. Sonst vervielfachen sich die Freunde über Nacht.

Wer hat ihn noch nie geträumt, den Traum vom ganz großen Geld. Vom Sechser im Lotto, am besten mit Zusatzzahl. „Den Eintritt in ein neues Leben“, nennt Frank Härter das, wie auch immer dieses Leben aussehen mag. Härter arbeitet seit über 30 Jahren in der Stuttgarter Lottozentrale. Er kennt all die glücklichen und tragischen Geschichten. Er weiß, wie grundlegend sich die Branche geändert hat. Und er öffnet für einen Rundgang die ansonsten weit gehend verschlossenen Tore des Landessitzes in der Nordbahnhofstraße.

Ein Paternoster für Spielscheine

Ein kleines Museum mit historischen Ziehungsmaschinen gibt es da zu sehen. Fast schon antiquiert wirken die, aber eines ist bis heute gleich geblieben: Die Kugeln, die alles entscheiden, sind schlicht lackierte Tischtennisbälle. Penibel wird darauf geachtet, dass alle exakt gleich sind. Andere Stücke dagegen haben nur noch Erinnerungswert: Die Metallkisten, mit denen früher die ausgefüllten Scheine aus dem ganzen Land angeliefert worden sind zum Beispiel. Oder das Schranksystem in Form eines Paternosters, das das gesamte Gebäude von unten bis obern durchläuft. Dort sind die Scheine einst aufbewahrt worden.

„Früher war der Aufwand enorm“, erinnert sich Härter. Nach Abgabeschluss mussten Millionen Papierscheine von den Annahmestellen zu den Bezirksdirektionen und von dort in die Stuttgarter Zentrale gebracht werden. Die Gesellschaft hatte riesige Säle in der gesamten Innenstadt angemietet. Dort saßen montagvormittags bis zu 1300 Mitarbeiter und kontrollierten mit eigens angefertigten Schablonen von Hand, welche Scheine gewonnen haben.

Ganz pannenfrei lief das freilich nicht immer ab. Härter erinnert sich schmunzelnd an eine Begebenheit in Reutlingen. Dort sollten 2500 Lottoscheine von einer Annahmestelle zur Bezirksdirektion gebracht werden. Der Fahrer stellte die Kiste aufs Autodach, schloss die Tür auf, stieg ein – und fuhr los. Sämtliche Scheine verteilten sich in der Landschaft. Die Polizei rückte an, sperrte die Straße ab, zahlreiche Helfer kamen. „Die ganze Nacht sind Scheine gesucht, gereinigt und gebügelt worden. Alle sind wieder aufgetaucht“, sagt Härter.

Der Sicherheitsbereich hält einem Flugzeugabsturz stand

Diese Zeiten sind vorbei. Heute gibt es noch 190 Mitarbeiter. „Die Romantik ist weg“, sagt Härter. Seit Mitte der 90er werden in der Lotto-Zentrale keine Scheine mehr angeliefert, sondern nur noch Daten. Sie wandern direkt von den Terminals in den Annahmestellen nach Stuttgart. Das ist einfacher und sicherer.

Aber nicht ohne Herausforderungen. Härter öffnet feierlich eine Tür im Sicherheitsbereich im Untergeschoss des Gebäudes. „Das Allerheiligste“, sagt er stolz. Der Rechnerraum. Hier hat die Öffentlichkeit normalerweise keinen Zutritt. Denn alle Spieldaten aus dem Land laufen in dem nüchternen Trakt voller Technik zusammen. „Wenn es hier einen Schaden gäbe, wäre alles weg“, weiß der Fachmann. Das wäre eine Katastrophe. Deshalb stehen hier vier Rechnersysteme, wo eigentlich eines genügen würde. Vier weitere stehen als Ersatz in einem anderen Gebäude bereit. Es gibt eine eigene Stromversorgung, die Decke ist massiv verstärkt. „Einen kleinen Flugzeugabsturz würde der Raum wohl überstehen“, sagt Härter.

Doch Unbill lauert noch von ganz anderer Seite. „Die Technik wird immer ausgefeilter, allerdings auch die Gefahr entsprechend größer“, sagt Caspers-Merk. Pro Tag gibt es über 1000 Computerattacken auf das System. Zu holen gibt es für Kriminelle allerdings nichts – weder real noch virtuell. „Wir haben hier keine Geldkoffer rumstehen und sind auch digital äußerst gut geschützt“, sagt die Geschäftsführerin und lacht.

Private Konkurrenz im Internet

Schwerlich schützen können sich die staatlichen Glücksspielspezialisten allerdings vor der privaten Konkurrenz. Besonders illegale Anbieter, die im Ausland sitzen, machen der Lottogesellschaft zu schaffen. Caspers-Merk spricht von Wildwuchs und sagt: „Fast jeder zweite Lottospieler im Internet tippt illegal – oft ohne es zu wissen.“ Lotto ist für viele eben gleich Lotto. Das bekommt dann auch die Telefonzentrale in Stuttgart zu spüren. „Wenn jemand bei einem illegalen Anbieter die richtigen Zahlen hatte, aber kein Gewinn ausbezahlt wird, landet die Beschwerde darüber schon mal bei uns“, weiß die Geschäftsführerin. Man müsse „für Aufklärung sorgen“.

Gleichwohl setzen die Konkurrenz, die Verlagerung ins Internet und neue Spielformen auch den Dinosaurier des Glücksspiels unter Druck. Und so arbeitet man hinter den Mauern des Lottozentrale an neuen Modellen. Seit kurzem gibt es in Stuttgart nach Ewigkeiten wieder einen eigenen Ziehungsraum für Sonderauslosungen. Bis Ende des Jahres soll zudem die Entwicklung einer neuen Geolotterie beendet sein. Spieler sollen mit den Geodaten ihres Wohnorts teilnehmen können. Ein bisschen Sinn fürs Soziale darf’s dabei auch sein: Der Hauptgewinner soll über die Förderung einer am Gemeinwohl orientierten Einrichtung in seiner Umgebung mitbestimmen können. Getreu den Grundsätzen, denn der Staatsbetrieb führt aus seinen Einnahmen etwa eine Million Euro pro Tag für Sport, Kunst, Denkmalschutz und Soziales ab.

Die Chance auf den Jackpot liegt bei eins zu 140 Millionen

Doch trotz aller Neuerungen: Bei den allermeisten Spielern bleibt wohl der Traum von den sechs Richtigen mit Superzahl. Und obwohl die Chance darauf, den Jackpot zu knacken, bei eins zu 140 Millionen liegt, gibt es immer wieder Menschen, deren Geschichte schier unfassbar scheint. „Neulich hatte ich hier einen jungen Studenten sitzen, der mit seinen Eltern kam. Der hatte erst zum zweiten Mal Lotto gespielt und 13 Millionen Euro gewonnen“, erzählt Marion Caspers-Merk. Ein großes Glück, ohne Zweifel.

Ob der warme Geldregen die Gewinner auch glücklich macht, steht auf einem anderen Blatt Papier. Das hängt von jedem selbst ab. Erholen von der Nachricht müssen sich aber zunächst mal alle. Nicht nur diejenigen, die erst in der Stuttgarter Lotto-Zentrale von den Millionen erfahren.