Einst sollte der Stuttgarter Alex Capasso in einer speziellen Klinik von seiner Homosexualität „geheilt“ werden. Das stürzte ihn in eine tiefe Krise. Nun macht er sich auf die Suche: Gibt es die Einrichtung noch?
Alex Capasso tritt aus einem Hotel, jedes Ausatmen wird zu einer kleinen Kältewolke. Er blickt auf eine Landschaft, wo der Wind den Pulverschnee in die Höhe wirbelt. Winteridylle auf der einen, Hotels und Restaurants auf der anderen Seite. Ein Ort, an dem Menschen Erholung suchen. Aber Alex Capasso, Stuttgarter, 42 Jahre alt, ist nicht hier, um Urlaub zu machen. Er will gleich die Einrichtung aufsuchen, wo ihm einst das Schwulsein ausgetrieben werden sollte. Er schwitzt und zittert zugleich.
Vier Behandlungen absolvierte Alex Capasso zwischen 2006 und 2008 in einem grauen Gebäude, ein paar Kilometer vom Zentrum des Städtchens Szklarska Poręba im polnischen Riesengebirge. Er musste mit anderen Männern Fußball spielen, Schränke aufbauen, solche Dinge. So erzählt es Capasso. Das Ziel: Männlicher werden und dadurch weniger schwul. Eine Konversionstherapie also, eine Form der Therapie, die etwas versucht zu heilen, was keine Krankheit ist, etwas zu verändern, was nicht zu verändern ist. Der Weltärztebund bezeichnet sie als Menschenrechtsverletzung, der Deutsche Ärztebund warnt vor den Auswirkungen solcher Behandlungen, in Deutschland gibt es seit 2020 ein Teilverbot.
Er wächst als Zeuge Jehovas auf
Das Auto, das Alex Capasso zum Ort des damaligen Geschehens bringen soll, hält nach wenigen Minuten wieder an. Er übergibt sich, mit so einer heftigen Reaktion auf diese Erinnerungen hatte er nicht gerechnet. Nachdem Capasso das letzte Mal hier war, hatte er sich so oft die Hände gewaschen, bis die Haut aufgelöst war und die Hände bluteten. Er entwickelte einen Waschzwang und den immer drängender werdenden Gedanken, ob sein Leben so noch Sinn macht.
„Wenn man nicht authentisch sein kann, macht einen das krank“, sagt Alex Capasso. In den Behandlungen sei darauf hingearbeitet worden, jemanden aus ihm zu machen, der er nicht ist, anstatt sein eigenes Ich zu akzeptieren, sagt Capasso. Körper und Seele hätten sich dann wie zwei nicht zusammengehörige Dinge angefühlt. Trotzdem will er sich dieser Vergangenheit stellen – und nachgucken, ob dort heute noch Menschen so leiden wie er damals. Unsere Zeitung und ein Filmteam begleiten ihn dabei.
Der Grund, warum Capasso in der Einrichtung gelandet ist, hat auch mit seiner Lebensgeschichte zu tun. Er wächst in der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas auf. Der Vater konvertiert als Erwachsener zu den Zeugen, die Mutter ist von Geburt an dabei. Schon als Kind, sagt Alex, habe er gemerkt, dass er anders ist, auch wenn er das Wort dafür erst später kennenlernt: Er ist schwul.
Wer richtig an Gott glaubt, könne nicht schwul sein, heißt es
So wie die Zeugen Jehovas die Bibel auffassen, ist das ein Problem. „Keiner, der (. . .) homosexuelle Beziehungen eingeht, (. . .) wird an Gottes Reich teilhaben“, wird etwa in der Zeugen-Zeitschrift „Erwachet“ aus der Bibel zitiert. Alex Capasso sagt: Bei den Zeugen werde einem eingetrichtert, dass man bestraft oder vernichtet werde, wenn man seine Homosexualität auslebt. Schwul zu sein sei zudem eine Art Fehler im Glauben: Wer richtig an Gott glaubt, wird auch davon befreit, als Mann auf andere Männer zu stehen. Alex Capasso probiert das – im Kloster.
Nach seiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann geht Alex Capasso ins Bethel – so heißt die Zweigzentrale für Zentraleuropa der Glaubensgemeinschaft, eben eine Art Kloster der Zeugen Jehovas. Capasso, damals 21, ist stolz, dort in Selters im Taunus aufgenommen zu werden.
Der Tag beginnt mit Gebeten, dann Arbeit: Toiletten putzen, Nachtwache halten, im Speisesaal helfen. Drei Mal die Woche gibt es eine Versammlung, so nennen die Zeugen ihren Gottesdienst. Dazwischen: Predigtdienst, also die Überzeugungsarbeit, für die an den Haustüren geklingelt wird. Kaum Freizeit, ein bisschen Taschengeld, aber man macht das ja auch für Gott. Er denkt: Gott wird schon dafür sorgen, dass er von seiner Homosexualität loskommt.
Überfürsorgliche Mutter, abwesender Vater
Aber Gott sorgt nicht dafür, Capasso bleibt schwul. Und wer schwul ist, habe bei den Zeugen Jehovas keine Möglichkeit, Liebe zu erfahren, sagt er. Wie ein Leben im Zölibat. Capasso vertraut sich jemandem aus dem Bethel an. Der erzählt ihm, dass anderen in der Situation schon geholfen worden sei – bei einer speziellen Therapie in Polen.
Vier Mal reist Alex Capasso daraufhin für einige Tage nach Pole n, zu der Einrichtung in Szklarska Poręba, dazu macht er einen Therapie-Turn in Deutschland und einen in Portugal. Der Therapeut in Polen, ebenfalls ein Zeuge Jehovas, beruft sich auf Richard Cohen, einer der Köpfe der Konversionstherapien weltweit. Cohen ist überzeugt, „dass Homosexualität in keinem Fall dem wahren Selbst einer Person entspricht“ und „eine Störung der psychosexuellen Entwicklung darstellt.“ Berufsverbände von Psychologen lehnen solche Ideen ab.
Alex ist in einer Gruppe von etwa 20 Männern. Ihnen wird erklärt, warum sie schwul sind. Nach der Lehre Cohens: Die Mutter war überfürsorglich, der Vater abweisend oder abwesend. Die fehlende Zuneigung zum Vater wird später in anderen Männern gesucht.
Kuscheln mit einem Hetero-Mann soll helfen
Jede Therapie kostet mehrere Hundert Euro. Neben den Männlichkeitsübungen wie Fußball spielen und Schränke aufbauen lernt er, dass er mit heterosexuellen Männern kuscheln müsse, um seine Homosexualität zu überwinden. Aber auch das bringt keine Veränderung. Innerlich wird Capasso zu dieser Zeit immer leerer. Er entwickelt Suizidgedanken. Vom Bethel, der Zeugen-Zentrale, wird er heimgeschickt zu seinen Eltern.
Alex Capasso besucht in dieser Zeit einen Freund in Seattle. Dort ist auch ein Mann namens Sam. Es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen, erzählt Capasso. Mit 26 hat er seinen ersten Kuss. Es entsteht eine Fernbeziehung draus, Capasso besucht Sam mehrere Male, sie entdecken sich – und Alex Capasso entdeckt all das, was er solange versucht hat zu unterdrücken. Eine kurze Phase auf Wolke sieben. Nach einem halben Jahr macht Sam Schluss. Alex Capasso ist am Boden.
Alex verliert alles, wofür er bisher gelebt hat
Er vertraut die Geschichte seinen Eltern an. Die melden die Affäre in der Gemeinde, ein Rechtskomitee wird einberufen, also eine Art Verhör. Capasso muss genau schildern, was passiert ist. Am Ende die Frage: Bereust du, was du getan hast? Er sagt: Nein! Dieses eine Wort bedeutet das Ende des Lebens, wie er es bisher gelebt hatte. Er wird von den Zeugen Jehovas ausgeschlossen. Er wohnt noch bei seinen Eltern, aber wenn sie essen, darf er nicht mit am Tisch sitzen. Er verliert sein soziales Netz und alles, wofür er bisher gelebt hat. Wer mal ausgeschlossen wurde, existiert für die Zeugen Jehovas nicht mehr.
Nach ein paar Monaten findet Capasso ein WG-Zimmer. Er fühlt sich, als wäre er gerade aus einem Bunker gekommen und hätte zum ersten Mal Kontakt mit dem Leben außerhalb. Er bezieht Hartz IV, jobbt dann in einer Sauna an der Bar, findet irgendwann einen Job bei einer Krankenkasse, arbeitet sich hoch. Schritt für Schritt in ein normales Leben, an das er gar nicht mehr geglaubt hatte. Aber das frühere Leben lässt ihn nicht los.
15 Jahre lang besucht Alex Capasso eine Psychotherapie, um damit klarzukommen, was 26 Jahre als Zeuge Jehovas und mehrere Konversionsbehandlungen an Spuren hinterlassen haben. Was von dem, was ich gelernt habe, ist wahr? Bin ich richtig, so wie ich bin? Liegt es nicht doch an mir, dass ich schwul bin? Erst im vergangenen Frühjahr beendet er die Therapie. Und fühlt sich damit auch bereit, den Ort in Polen zu besuchen, der wie ein Symbol für all das Leid steht, das er durchgemacht hatte.
Zurück an der Tankstelle, wo Capasso sich übergeben hatte. Seine Augen tränen, aber er will weitermachen, noch einmal die Konfrontation mit diesem Ort, um mit dem Thema Konversion abzuschließen. Er lässt sich vor das graue Gebäude fahren, indem die Behandlung stattgefunden hat. Mit schweren Schritten geht er durch minus drei Grad kalte Luft auf den Eingang zu, im Hintergrund hört man Hämmern von einer der vielen Baustellen in der Urlaubsidylle. Die Tür geht auf, die Einrichtung hat noch geöffnet.
Was findet hinter den Türen statt?
Alex Capasso findet leere Gänge vor, Totenstille. Der Boden und die Wände sehen noch genauso zweckbaumäßig aus wie damals. Erinnerungen kommen hoch, ein kalter Schauer. Er klopft an eine Tür, dahinter findet gerade eine Gruppentherapie, ganz ähnlich, wie auch er sie einst erlebt hat. Ein Therapeut bringt ihn zur Leiterin der Einrichtung. Es ist die Frau jenes Mannes, der versucht hatte, Capasso’ Sexualität umzukehren, und auch die Frau sei bei manchen Sitzungen dabeigewesen, erzählt er. Sie begrüßt ihn freundlich und erzählt, dass ihr Mann vor 13 Jahren gestorben sei. Und dass seither keine Konversionsbehandlungen mehr durchgeführt würden. Capasso sagt, er glaube ihr das.
Erschöpft kommt Capasso aus dem Gebäude, die zehn Minuten dort drin haben ihn ausgelaugt. „Ich freue mich, dass sie diese Art der Therapie nicht mehr machen und niemand mehr durchmachen muss, was ich durchgemacht habe“, sagt er. Andernorts in Polen dürfte es diese Behandlungen wohl weiterhin geben. Die „Taz“ berichtete Ende 2023 von einer Konferenz in Warschau, bei der es auch um Konversionsbehandlungen ging. Auch der Wissenschaftler Klemens Ketelhut geht davon aus, dass es gewisse Ausweichbewegungen durch Verbote in anderen Ländern gibt. Aber auch in Deutschland fänden diese immer noch statt, manchmal würden sie auch „Heilung“ genannt.
Für Alex Capasso ist dieses Kapitel nun abgeschlossen. Es habe gutgetan, an diesem Ort zu sein und zu merken, dass ihm nichts mehr passieren kann, erzählt er danach bei einem Kaffee in einem Hotel. Aber jetzt will er das hier hinter sich lassen, nach Hause zu seinem Freund, mit dem er seit acht Jahren zusammen ist. Mit dessen Familie Weihnachten feiern. Das normale Leben führen, für das er so lange gekämpft hatte.
Konversionsbehandlungen in Deutschland
Verbot
In Deutschland gilt seit 2020 ein Gesetz, dass etwa Konversionsbehandlungen bei Jugendlichen verbietet. Ebenso verboten ist das Anbieten, Bewerben und Vermitteln von Konversionsbehandlungen. Bei Erwachsenen sind die Behandlungen prinzipiell erlaubt, solange sie unter freiem Willen stattfinden.
Anzahl
„Es gibt Konversionsbehandlungen auch in Deutschland, und das nicht nur vereinzelt“, sagt Klemens Ketelhut, der bei dem Verein Mosaik Deutschland e. V. aus Heidelberg das Projekt „Konversionsbehandlungen: Kontexte. Praktiken. Biografien“ leitet. Etwa ein Viertel der Fachkräfte hat Kenntnis von Konversionsbehandlungen, ergab zudem eine Erhebung der Uniklinik Hamburg-Eppendorf. Dazu berichtete etwa ein Drittel der befragten Menschen aus der queeren Community, dass ihnen schon einmal Handlungen vorgeschlagen wurden, um ihre sexuelle Orientierung zu ändern oder zu unterdrücken.
Methoden
Konversionsbehandlungen würden etwa im Rahmen psychotherapeutischen Behandlungen durchgeführt, sagt Klemens Ketelhut. Es werde mitunter eine sexuelle Orientierung als Auslöser für eine Depression gesehen – und dann versucht, ersteres zu ändern. Es gebe aber auch Versuche durch Homöopathie, Exorzismen oder Gebete, die sexuelle Orientierung zu verändern.