„Wenn wir einstellen, ist das Geschrei oft groß“: Siegfried Mahler im Gespräch mit den „Stuttgarter Nachrichten“ Foto: Lichtgut

Die Sitten in der Justiz sind rauer geworden, meint der scheidende Leiter der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, Siegfried Mahler im Interview. Er fordert wieder mehr Respekt.

Herr Mahler, als Sie im Mai 2006 vom damaligen Amtschef des Justizministeriums, Michael Steindorfner, in Ihr neues Amt eingeführt wurden, sagte er, die Leitung der Staatsanwaltschaft Stuttgart sei eine der schwierigsten Aufgaben, die die Justiz des Landes zu vergeben habe. Klingt nach Schleudersitz.

So war das, glaube ich, nicht gemeint. Es ist ein herausforderndes Amt. Die Herausforderung besteht darin, dass ich Dinge anweisen und verlangen kann, dafür dann aber auch die Verantwortung trage und mich gegenüber meinen Vorgesetzten rechtfertigen muss. Das ist als Gerichtspräsident anders, da gilt die richterliche Unabhängigkeit. Ein Staatsanwalt aber ist Teil der Exekutive.

Wie sehr mischen Sie sich in die Arbeit Ihrer Staatsanwälte ein?

Ich bin keiner, der jedem sagt, was er wie zu tun hat. Das wäre auch gar nicht möglich. Nur herausragende oder besonders schwierige Fälle landen auf meinem Schreibtisch – und ich muss auch darauf achten, dass wir bestimmte Delikte nach den gleichen Maßstäben behandeln.

In der Öffentlichkeit wird die Arbeit Ihrer Behörde auch kritisch betrachtet, zum Beispiel die Aufarbeitung des Polizeieinsatzes gegen S-21-Demonstranten im Jahr 2010.

Zu Stuttgart 21 hat jeder seine Meinung, aber als Staatsanwalt muss man sich davon losmachen und immer Distanz halten. Letztlich geht es nur darum, ob die Gesetze eingehalten werden. Wir hatten damals im Zusammenhang mit Stuttgart 21 über 1000 Verfahren. Und die haben wir abgearbeitet.

Aber der Druck und die Kritik waren damals doch enorm – auch vonseiten der Politik.

Man hat nach meinem Eindruck damals versucht, über das Justizministerium Druck auszuüben. Aber dieser Druck wurde nie an uns weitergegeben, dafür bin ich dankbar. Andererseits hätte sich auch jeder Staatsanwalt gegen eine solche Einmischung gewehrt. Das Ministerium hat zwar ein generelles Weisungsrecht – zum Beispiel um bei bestimmten Bagatelldelikten im ganzen Land eine einheitliche Vorgehensweise zu gewährleisten. Aber es soll im Einzelfall keine Einwirkung von oben geben, und die gab es auch nicht.

Die Gerichtsverhandlungen gegen S-21-Gegner waren damals zum Teil turbulente Veranstaltungen.

Ja, aber es war möglich, Ordnung zu schaffen. Wenn ich allerdings so zurückblicke, ist mein Gesamteindruck schon: Der gegenseitige Respekt in unserer Gesellschaft ist etwas verloren gegangen.

Woran machen Sie das fest?

Alles wird infrage gestellt, nichts wird mehr akzeptiert – auch dann nicht mehr, wenn die letzte Instanz entschieden hat. Die Justiz aber braucht eine gewisse Ordnung und einen gewissen Rahmen, in dem die Verhandlungen stattfinden. Wenn das nicht mehr möglich ist, weil zum Beispiel der Druck der Straße zu groß ist, dann läuft etwas schief.

Aber da geht es nur um wenige Extremisten.

Das mag schon sein, aber diese Extremisten finden heute Rückhalt in einer größeren Menge. Man distanziert sich nicht mehr von Krawall, sondern sagt: Geschieht denen ganz recht, wenn es heftiger zugeht. Entsprechend groß und auch teuer sind inzwischen die Sicherheitsvorkehrungen bei Gericht: Als ich Ende der 80er Jahre am Landgericht Stuttgart arbeitete, hatten wir dort vielleicht 30 Wachtmeister. Heute sind es 90.

Ist das eine generelle gesellschaftliche Entwicklung?

Ich glaube schon. Hoheitliche Entscheidungen werden schlicht nicht mehr akzeptiert. Nun kann man immer alles und jedes hinterfragen, aber ob das unser Zusammenleben besser macht, wage ich mal zu bezweifeln. Es ist auch schade, weil sich Richter und Staatsanwälte ja wirklich um Akzeptanz bemühen.

Tatsächlich?

Ja. Ich habe 1978 als Richter mit 26 Jahren beim Landgericht Hechingen meinen Amtseid geleistet. Darin heißt es, dass man der Wahrheit und der Gerechtigkeit „dienen“ soll. Das macht unseren Berufsstand aus, und wenn man sich daran orientiert und gewissenhaft seine Arbeit macht, kann man auch Respekt verlangen. Man muss die Entscheidungen der Justiz nicht gut finden, aber man sollte sie respektieren.

Die steigende Zahl der Ermittlungsverfahren spricht doch eher dafür, dass die Staatsanwaltschaft noch immer hohes Vertrauen genießt.

Ja. Sonst hält man nicht unbedingt immer viel von uns, aber im Konfliktfall soll es die Staatsanwaltschaft dann richten.

Ein Problem?

In gewisser Weise schon. Immer mehr zivile Streitigkeiten werden an die Staatsanwaltschaft herangetragen. Wenn zum Beispiel zwei Nachbarn sich streiten und einer hebt am Gartenzaun die Schaufel, wird der gleich wegen Bedrohung angezeigt. Oder einer Behörde wird gleich Rechtsbeugung vorgeworfen, weil sie einen Antrag abgelehnt hat. Viele schreiben inzwischen auch Strafanzeigen, obwohl sie nichts mit dem Fall zu tun haben, sondern nur in der Zeitung davon gelesen haben. Das ist insgesamt eine ungute Entwicklung, denn so haben wir eine Vielzahl an Verfahren, die eigentlich gar nichts bei uns verloren haben. Wenn wir dann die Verfahren einstellen und auf den Privatklageweg verweisen, ist das Geschrei oft groß. Aber die Klärung solcher Fälle ist nun mal nicht im öffentlichen Interesse, das alles kostet ja auch Steuergeld.

Als Sie anfingen, bearbeiteten 123 Staatsanwälte in Stuttgart pro Jahr etwa 96 000 Verfahren, was ja auch schon eine Menge ist. Wie sieht es heute aus?

Inzwischen haben wir rund 180 Staatsanwälte, wir wurden also aufgerüstet. Letztes Jahr bearbeiteten wir rund 110 000 Verfahren gegen namentlich bekannte Beschuldigte, dieses Jahr werden es nach der Prognose voraussichtlich rund 114 000 Verfahren sein. Wenn Sie dann noch die Verfahren gegen unbekannt und wegen Ordnungswidrigkeiten dazu nehmen, dann sind Sie bei über 200 000 Verfahren pro Jahr! Für die Erledigung eines Verfahrens brauchen wir übrigens im Schnitt rund 56 Tage.

Unterm Strich fehlen Ihnen immer noch zehn Staatsanwälte, richtig?

Ja, das stimmt. Der Grad an personeller Versorgung liegt inzwischen bei 94 Prozent. Aber unser Justizminister ist dran, möglicherweise weiteres Personal zu kriegen.