Seit hundert Jahren vermittelt die Caritas Rottenburg-Stuttgart Adoptionen. Potenzielle Eltern müssen viele Fragen beantworten und benötigen viel Geduld – so wie Paul und Charlotte.
Stuttgart - Pauls Herz schlägt Purzelbäume, jedes Mal, wenn sein Handy klingelt und auf dem Display eine Stuttgarter Rufnummer erscheint. Paul, 37, ist ein werdender Vater, da darf das Herz schon einmal einen Hüpfer machen bei einem Anruf. Nur gehen er und seine Frau Charlotte, 39, nicht erst seit neun Monaten schwanger mit dem sehnlichen Wunsch, bald zu dritt zu sein. Das Warten der beiden dauert schon viele Jahre. Ob es am Ende dazu führt, dass sie tatsächlich ein Kind ins Leben begleiten dürfen, ist offen. Paul und Charlotte, die in Wirklichkeit ganz anders heißen, möchten Adoptiveltern werden.
Paul und Charlotte gehören zu den aktuell 18 Paaren, die bei der Adoptionsstelle der Caritas Rottenburg-Stuttgart, die in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen feiert, als Bewerber zugelassen wurden. 19 weitere Paare würden gerne als potenzielle Adoptiveltern angenommen werden. Die Hürden sind hoch. Bei Paul und Charlotte hat es elf Monate gedauert, bis sie als Bewerber akzeptiert wurden. In dieser Zeit haben sie viele stundenlange Gespräche geführt mit Elisabeth Renz von der Adoptionsvermittlungsstelle. Sie haben darüber geredet, warum sie sich vom Wunsch nach einem eigenen, leiblichen Baby verabschiedet haben und warum sie dennoch Eltern werden wollen. Sie haben miteinander ihre Familiengeschichten aufgedröselt, ihre Vorstellungen von der Liebe und dem Leben und der Welt an sich.
Am Ende, sagt Elisabeth Renz, gehe es darum herauszufinden: „Sind das Menschen, die verstehen, was ein Adoptivkind von ihnen braucht?“ Renz legt den Ratsuchenden dafür auch ein Kinder-T-Shirt vor, das sie aus einem Kanada-Urlaub mitgebracht hat. Darauf sind ein großer Bär und ein großer Elch aufgedruckt, die zusammen mit einem kleinen Biber, einem kleinen Waschbären und einem kleinen Graufuchs eine fröhliche Familienwanderung unternehmen. „Sind Sie wirklich bereit für diese Reise?“, will die 55-Jährige wissen. „Oder wollen Sie eigentlich, dass ein kleiner Bär mit Elchgeweih Sie begleitet?“ Bei etwa vier von zehn Paaren kommen Elisabeth Renz und ihre Kollegin am Ende zum Schluss: Sie sind es nicht. Ihnen erteilen die Mitarbeiterinnen der Adoptionsstelle eine Absage.
Platz und Geld sind da – fehlt nur noch das Kind
In Baden-Württemberg werden jedes Jahr rund 500 Kinder adoptiert, Tendenz sinkend. Für mehr als zwei Drittel dieser Buben und Mädchen ändert sich laut Statistik durch die Adoption faktisch nichts an ihren Lebensumständen, weil sie von einem Stiefelternteil oder von Verwandten angenommen werden. Gut ein Drittel der Kinder ist jünger als drei Jahre. Die übrigen Adoptionen verteilen sich einigermaßen gleichmäßig auf alle Altersstufen.
Charlotte und Paul haben sich schweren Herzens vom Wunsch nach einem Elchbären verabschiedet. Aber sie würden liebend gerne ein Kind ins Leben begleiten,. „Wir wären gute Eltern“, da ist sich Charlotte ganz sicher. Die beiden kennen sich seit 15 Jahren. Sie sind sich auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt zum ersten Mal begegnet. „Charlotte wollte mich nicht von ihrer Schokobanane abbeißen lassen“, erinnert sich Paul. Seitdem teilen sie ihr Leben, sie wohnen in einer Stadt in der Region Stuttgart. Sie arbeitet als Psychologin, ihr Mann ist selbstständig als Kaufmann. Die zwei haben ein Häuschen aus den 50er Jahren, das mitten in einem riesigen Garten thront. Sie haben den Platz. Sie haben die Möglichkeiten, auch in finanzieller Hinsicht: Charlotte würde daheim bleiben bei dem Kind, „das würde ich mir nicht nehmen lassen“.
Die 39-Jährige ist chronisch krank, seit sie ein Teenager war. Sie ist auf Medikamente angewiesen, die bei einem Fötus zu Missbildungen führen könnten. Andere Arzneien verträgt Charlotte nicht, sie hat es ein Jahr lang versucht. Ihr ging es immer schlechter. Obendrein waren die Ärzte sich nicht einig, ob ihr Körper einer kompletten Schwangerschaft gewachsen wäre. Heutzutage, erklärte ihnen ein Mediziner, könne man Babys auch schon in der 24. Schwangerschaftswoche auf die Welt holen, 16 Wochen zu früh. „Wir haben uns gefragt: Können wir das einem Kind antun, nur weil wir selbst diesen starken Wunsch nach einem Baby haben?“ , sagt Charlotte.
Wie, bitte schön, soll das Wunschkind sein?
Das Adoptionsverfahren, erzählt sie, „war unser Plan B“. Vor drei Jahren wandten sie sich an Elisabeth Renz. „Die Gespräche bei der Caritas fand ich bereichernd“, sagt Charlotte. „Wir haben viel über den anderen erfahren“, erzählt Paul. Das sei nicht immer einfach gewesen, am Ende aber „hat es unsere Partnerschaft gestärkt“. Das Schwierigste in dieser Zeit, darin sind sich die beiden einig, sei das Ausfüllen des Fragebogens gewesen: Wie, bitte schön, soll denn das Wunschkind sein? Die Frage nach der Hautfarbe war schnell beantwortet: Das ist beiden vollkommen egal. Aber ist man als Paar bereit, ein behindertes Kind aufzunehmen? Welche Behinderungen? Was, wenn das Kind Spross einer Vergewaltigung oder eines Inzests ist? Die beiden haben sich Zeit gelassen mit dem langen Fragenkatalog. Immer wieder haben sie ihn weggelegt, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben. Man fühle sich schäbig, sagt Charlotte: „Wir kamen uns vor wie in einem Supermarkt.“ Gleichzeitig war da die Notwendigkeit, offen miteinander zu reden, wozu jeder bereit ist, was man sich zutraut – und was eben nicht.
Dabei haben die beiden schon ihre Grenzen ausgelotet, denn einmal hat Pauls Handy schon geklingelt. Kurz nachdem sie als Bewerberpaar bei der Caritas angenommen worden waren, rief Elisabeth Renz an. Es gebe da ein Baby, sieben Monate alt, das suche eine Pflegefamilie mit dem Ziel der Adoption. Die Mutter des Kleinen hatte in der Schwangerschaft Drogen genommen, Cannabis und Crystal Meth. Als sie gemerkt habe, dass ein Kind unterwegs sei, habe sie damit aufgehört, jedenfalls habe sie das gesagt. Aber wie der Drogenkonsum das Kind beeinträchtigen werde, das wisse man noch nicht. Der Anruf kam abends. „Wir hatten zwölf Stunden Zeit, uns zu entscheiden“, erinnert sich Paul. „Das waren wilde Stunden.“
Die beiden redeten miteinander, zogen Freunde zurate, rangen mit sich. Charlotte war offener, bei Paul überwog die Sorge: Wie würde die Droge das Kind beeinträchtigen? Schließlich sagten sie Nein. „Crystal Meth ist ein Teufelszeug“, sagte Paul. Die Angst, mit den Auswirkungen dieses Teufelszeugs auf das Kleine überfordert zu sein, war einfach zu groß.
Kinder haben ein Recht auf ihre Herkunft
Adoptiveltern nehmen nicht nur ein Kind auf, sagt Elisabeth Renz, „sondern auch dessen Geschichte und Herkunft“. Wer dafür nicht offen sei, „wird nicht angenommen – Punkt. Das ist sonst ein Risikofaktor für das Kind.“ Babys, die von ihren Eltern zur Adoption freigegeben würden, verlieren alles, selbst jene Säuglinge, die direkt nach der Geburt zu ihren sozialen Eltern kommen. Der vertraute Geruch der leiblichen Mutter, die vertraute Stimme, „das ist alles nicht mehr da“. Adoptiveltern müssten deshalb nicht nur die eigene, ungewollte Kinderlosigkeit ausreichend verarbeitet haben. Sie müssten auch „den Switch schaffen von der leiblichen zur sozialen Elternschaft“.
Dazu gehört auch, die leiblichen Eltern als Teil des adoptierten Kindes zu akzeptieren. Elisabeth Renz erzählt von einer Adoptivmutter, die ihr Baby, wenn es geweint hat, auf dem Arm getragen und ihm erzählt hat, wie es zu der Adoption kam und wie sie sich zum ersten Mal begegnet sind. Wieder und wieder erzählte sie diese Geschichte, sie übte die Worte – und später, als das Kind reden konnte, kamen sie ganz leicht von den Lippen. Dieses Kind habe seine Herkunft ganz selbstverständlich in sein Leben integriert, sagt Elisabeth Renz. „Das ist eine Erfolgsgeschichte, weil es so gelingt, Familie zu leben. Und diese Erfolgsgeschichte darf man erzählen.“ Früher oder später komme das Thema ohnehin – weil Kinder wissen wollen, warum sie Locken haben, ihre Eltern aber nicht. Und weil Kinder ein Recht haben auf ihre Herkunft.
„Es kann lange dauern, bis ein Kind Sicherheit findet bei Adoptiveltern“, sagt die Sozialarbeiterin, die seit fast 30 Jahren mit Adoptionen zu tun hat. Den frischgebackenen Familien verordnet sie deshalb erst einmal Ruhe. Ein Elternteil muss bereit sein, den Job vorerst aufzugeben. „Wenn mir Paare sagen, nach einem Jahr können wir ja probieren, ob es klappt mit der Kita, dann sage ich: Mit einem Kind wird gar nichts probiert an der Stelle. Familienfeste, Urlaube, Ausflüge – darauf müsse man erst einmal verzichten, bis das Kind angekommen ist in seiner neuen Welt.
Eine Form von Fürsorge
Die alte Welt wird dokumentiert. Renz berät werdende Eltern, die überlegen, ob sie ihr Baby behalten oder lieber zur Adoption freigeben wollen. „Diese Menschen sind in großer seelischer Not“, sagt die 55-Jährige. Darf man das? Lasse ich mein Kind im Stich? Oder ist es auch eine Form von Fürsorge zu erkennen, dass jemand anders das besser kann? Diese Gedanken, diese Nöte, diese Gespräche werden protokolliert und archiviert, die Kinder können die Geschichte ihrer Herkunft so später nachlesen. Elisabeth Renz fragt die leiblichen Eltern auch immer danach, was sie ihrem Kind wünschen. Auch diese Wünsche schreibt sie auf für später. Denn „niemand wünscht einem Kind etwas Schlechtes“.
Charlotte und Paul wünschen sich für ihre Familie ein Miteinander mit den leiblichen Eltern. Falls sie eines Tages ein Kind adoptieren können, soll die Herkunftsfamilie einen Platz bekommen. Väter und Mütter, die ihre Kinder zur Adoption freigeben, sind aus ihrer Sicht alles andere als Rabeneltern. Wie viel Größe gehöre dazu, sich einzugestehen, dass man dieser Aufgabe nicht gewachsen sei, fragt Charlotte.
Manchmal ist Charlotte des Wartens müde. Dann hadert sie auch mit ihrem Gott, bei dem sie sonst so viel Halt findet. „Warum will er nicht, dass ich Mutter werde? Was ist sein Plan für mein Leben?“, fragt sie sich dann. Paul hingegen ist sich sicher: „Eines Tages kommt der Tag X. Dann klingelt bei uns das Telefon.“