Aus unserem Plus-Archiv: Kinder mit Downsyndrom oder anderen Behinderungen sind nicht einfach zu vermitteln. Daniela und Martin hatten damit kein Problem. Sie haben Leon adoptiert, als er zehn Monate alt war. Heute ist er fünf und macht das Glück der kleinen Familie perfekt.
Baden-Württemberg - In schnellen Bewegungen malt er vier Luftballons. Über dem Sofa hängt ein Bild von ihm, auf dem Wohnzimmerboden liegen Spielzeuge und Kinderbücher. Leon trägt einen blauen Hoodie mit Dinos, die ihr Maul weit aufreißen. Dinos sind seine Lieblingstiere. Sorgfältig stellt er alle in einer Reihe auf. Manchmal sind sie nur Tiere auf dem Bauernhof, manchmal die Angreifer anderer Tiere.
Leon ist fünf Jahre alt. Er hat eine leichte Form des Downsyndroms, auch Trisomie 21 genannt. Menschen mit Downsyndrom haben in ihren Zellen das 21. Chromosom drei- statt wie üblicherweise zweimal. Trisomie 21 ist unveränderbar, es beeinflusst die körperliche und geistige Entwicklung in unterschiedlicher Weise. Andere Einschränkungen wie etwa Herzfehler, die oft mit dem Downsyndrom einhergehen, hat Leon nicht. Aber seine Entwicklung läuft langsamer. Er spricht noch nicht in Sätzen, kann aber alle Ja-Nein-Fragen beantworten. Zu Daniela, 45, sagt er deutlich „Mama“.
Vielleicht war es ja Schicksal. Nach dem Abitur macht Daniela ein soziales Jahr in einer Werkstatt für Menschen mit Downsyndrom und schließt sie gleich ins Herz. Später arbeitet sie als Heilerziehungspflegerin. Ihrem Onkel sagt sie damals: „Wenn ich mal ein Kind mit Downsyndrom bekomme, dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt.“ Jahre später wird sie sich an diesen Satz erinnern.
Als Daniela und ihr Mann Martin, 44, dann ein Kind bekommen wollen, wird sie nicht schwanger. Irgendwann beschließen sie, sich beim Jugendamt zu bewerben: Ein Kind mit Downsyndrom wollen sie adoptieren. „Wir hatten ganz wenig Zweifel, weil ich Menschen mit Downsyndrom schon kannte“, sagt Daniela.
Sie sprechen bei der Bewerbung offen an, dass sie sich weitere Einschränkungen wie körperliche Behinderungen nicht vorstellen können. Mit zehn Monaten kommt Leon zu ihnen. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, erinnert sich Daniela. Über Leons Geschichte darf sie nicht sprechen, sagt nur: „Er hat sich ins Leben gekämpft, hatte einen ganz schweren Start.“
„Leon erdet in dieser schnelllebigen Zeit“
Bei einer halb offenen Adoption wie im Fall von Leon weiß die Adoptivfamilie, wer die leiblichen Eltern sind. Aber umgekehrt ist keine Kontaktaufnahme möglich. Damit das so bleibt, sind hier alle Namen geändert, auch der Wohnort der Familie soll nicht genannt werden.
Leon geht in einen Förderkindergarten. Martin arbeitet Vollzeit und Daniela sieben Stunden in der Woche. Der Alltag der Familie unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von anderen Familien. Alles geht nur etwas langsamer. Das entschleunigt. „Leon erdet uns in dieser schnelllebigen Zeit“, sagt Daniela. Oft sei es mit ihm sogar einfacher, als mit Kindern ohne Handicap. „Leon ist grundzufrieden, er schätzt die Kleinigkeiten im Leben. Wenn Leon Musik hört, tanzt er einfach. Besonders zu seinem Lieblingslied „Old MacDonald had a farm“.
Es gibt nur wenige Menschen wie Daniela und Martin. Viele können sich ein Leben mit Kindern mit Handicap nicht vorstellen. Durch Pränataldiagnostik lassen sich Behinderungen schon vor der Geburt erkennen – was oft den Tod bedeutet: „Deutschland führt keine Zahlen, aber in Ländern wie Dänemark ist dokumentiert, dass 95 Prozent der Kinder mit Behinderung abgetrieben werden“, sagt Wolf-Dietrich Trenner, Vorsitzender des Arbeitskreis Downsyndrom Deutschland. Gegen Ende dieses Jahres sollen Krankenkassen in Einzelfällen die Kosten für einen Bluttest übernehmen, bei dem sich Trisomien feststellen lassen. Bisher hatten die Kassen nur die Kosten für die deutlich risikoreichere Fruchtwasseruntersuchung übernommen.
Mitleid im Blick
„Das Existenzrecht von Kindern mit Downsyndrom wird dadurch infrage gestellt“, kritisiert Trenner die Tests. Die Folgen: In Dänemark werden seit Einführung der Bluttests als Regelleistung immer weniger Kinder mit Downsyndrom geboren. Die Zahl hat sich inzwischen mehr als halbiert. Die Gründe für Trenner: Die Angst vor der Behinderung und das negative Bild von Gehandicapten. „Die Kinder werden abgetrieben, weil die Reaktion der Gesellschaft auf die Behinderung aggressiv, im günstigsten Fall gleichgültig ist.“ Daniela hat schon erlebt, dass auf einem Spielplatz Großeltern mit ihrem Enkelkind förmlich vor Leon weggerannt sind. Sie dachten vielleicht, das Downsyndrom sei ansteckend.
Häufig schauen andere Mütter Daniela mitleidig an. Sie haben ein falsches Bild vom Downsyndrom und meinen, es bedeute ein Leben der Last für die Familien. Der Gedanke, dass Daniela und Martin glücklich sein könnten, scheint ihnen abwegig. Manchmal wird Daniela direkt vor Leon auf die Behinderung angesprochen. Sie weiß, dass die Menschen es nur gut meinen. „Aber wenn Leon älter ist, muss ich überlegen, wie ich damit umgehe.“
Sie erinnert sich an einen Abend beim Einkaufen, der Supermarkt war voll mit Familien und quengelnden Kindern: „Leon aber winkte froh den Leuten zu und grüßte sie. Er strahlte und blieb bis zur Kasse geduldig. Trotzdem wurden wir nur mitleidig angeschaut.“
Sibylle Breit ist Sozialpädagogin bei der evangelischen Beratungs- und Vermittlungsstelle Württemberg. „Kinder mit Beeinträchtigungen sind wesentlich schwerer zu vermitteln“, sagt sie. Anders als Martin und Daniela zweifeln interessierte Paare oft an sich selbst und fürchten, für die Adoption eines Kindes mit Beeinträchtigung nicht stark genug zu sein. Und außerdem sei da die Angst vor dem, was andere denken könnten. „Die Angst davor, von der Gesellschaft nicht akzeptiert zu werden“, sagt Sybille Breit: „Leibliche Eltern würde man fragen, warum sie nicht abgetrieben haben.“
Auch Ärzte unterschätzen den Jungen
Manche Dinge im Leben der Familie sind anders. Leon muss öfters zum Arzt, wöchentlich geht er zur Logo- und Ergotherapie. Es stört Daniela, dass viele Leon unterschätzen – selbst die Ärzte. Da der Junge noch nicht versteht, dass Babys im Bauch wachsen, hat Daniela ihm noch nicht von der Adoption erzählt. Wenn Daniela Ärzten vor Untersuchungen nicht Leons Geschichte erklärt, sind sie unvorsichtig. Dann kommen Fragen wie: „Seit wann ist er bei euch?“ – „Und Leon hört das“, sagt Daniela.
Erst wenn er so weit ist, will sie ihm von der Adoption erzählen. Das beschäftigt sie: „Ich habe Angst, ihn dabei zu verletzen. Und davor, dass er sich nicht geliebt fühlt, weil andere zu ihm sagen: ‚Das ist ja gar nicht deine Mama‘.“
Auch über Leons Zukunft macht sich Daniela Gedanken: „Er soll so selbstständig wie möglich leben können, ohne dass ihm jeder sagt, was er tun soll.“ Wahrscheinlich wird Leon in einer betreuten Einrichtung wohnen müssen. Die Frage ist: „Wie sehr kann er mitbestimmen?“
Am Esstisch löffelt Leon genussvoll seinen Obstjoghurt bis auf die letzte Stelle aus. Trotzdem schüttelt er den Kopf auf Martins Frage, ob ihm der Joghurt schmeckt. „Du schauspielerst doch“, sagt Martin. „Jaja“, sagt Leon, der Schlingel.