Der Ehering steht für sein früheres Leben, das er hinter sich gelassen hat. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Thomas führt 20 Jahre lang ein Kleinstadtleben mit Ehefrau, zwei Kindern und klassischer Rollenverteilung.Dann gesteht er sich und seiner Familie ein, dass er homosexuell ist.

Region Stuttgart - Natürlich hat er es gewusst. Schon lange. Vielleicht schon immer. Die Gewissheit aber, dass er etwas ändern muss an seinem Leben, wenn er nicht vor die Hunde gehen will, trifft ihn schwer.

 

Gerne würde er sich vor dieser Wahrheit wegducken, doch sie nimmt Besitz von ihm, als er 1700 Kilometer von zu Hause entfernt auf dem Jakobsweg wandert. Die Erkenntnis, dass er nicht der ist, den andere in ihm sehen, und dass er diese Tatsache nicht für immer verschweigen kann: Das wiegt schwerer als der Elf-Kilo-Rucksack auf seinen Schultern.

Thomas (Name geändert) ist gerade 40 geworden, als er sich endlich eingesteht: „Ich bin schwul.“ Er spürt: Da ist keine Energie mehr, um die Gefühle zurückzuhalten, die in ihm toben wie ein Orkan. Keine Kraft mehr, um das Bild aufrechtzuerhalten, das er nach außen vermittelt. Das Bild eines Mannes, der mitten im Leben steht. Der fast 20 Jahre verheiratet ist und zwei Kinder hat. Ein Leben mit klassischer Rollenverteilung in einer schwäbischen Kleinstadt. Er, der erfolgreiche Banker, der gutes Geld verdient. Sie, die Häusliche, die ihm den Rücken frei hält und sich um die Familie kümmert. Teure Urlaube am Meer, gesellige Grillabende mit Freunden, regelmäßig Vereinsfeste. Streit gibt es selten.

Dass Thomas auf Männer steht, hat er 40 Jahre lang für sich behalten, von sich weggeschoben. „Ich erlegte mir ein Weltbild auf, dem ich unbedingt entsprechen wollte. Mit dem Wissen, dass es nicht meine Welt ist.“

Seine Frau lernt er mit 17 in der Berufsschule kennen. Sie gefällt ihm. Dunkles, langes Haar, zurückhaltend, humorvoll. Sie werden ein Paar, nach ein paar Jahren heiraten sie. Sie bekommen erst eine Tochter, später einen Sohn. Thomas zieht oft mit den Kumpels um die Häuser, seine Frau bringt jeden Abend die Kinder ins Bett. „Ich war egoistisch, habe immer gemacht, was ich wollte“, sagt der heute 43-Jährige. Und er sagt auch: „Es hätte so weitergehen können.“ Da war Geborgenheit, Sicherheit, vielleicht auch Liebe. Wer weiß das schon so genau? Aber das Gefühl vom großen Glück, das hat er vermisst. Auch wenn er betont: „Ich habe immer etwas für meine Frau empfunden.“

„Wow – toller Körper“

Bei der Geburt des Sohnes vor 16 Jahren ertappt er sich bei dem Gedanken: „Ihm muss es nicht so gehen wie mir. Er kann sein Leben leben, wie er es möchte.“ Er habe nie etwas mit Männern gehabt, während er mit seiner Frau zusammen war, sagt Thomas. Die homosexuelle Welt bleibt ihm lange fremd. „Natürlich haben mich Männer gereizt. Es wäre gelogen, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Wie oft stand ich nach dem Sport mit Männern unter der Dusche und dachte: Wow! Toller Körper!“ Mehr als kurze Blicke erlaubt er sich nicht. Er hält seine sexuelle Identität unter Verschluss. „Ich war ein guter Schauspieler, konnte schon immer gut Dinge mit mir selbst ausmachen.“

Den Jakobsweg geht er allein. 309 Kilometer in zwei Wochen, von León bis nach Santiago de Compostela. Die Gedanken reisen mit ihm, sie lassen sich nicht abschütteln. Sie rauben ihm den Appetit und den Schlaf. „Wer bist du? Wo ist dein Platz im Leben?“ Thomas ist nicht der Erste, der sich auf dem Pilgerweg solche Sinnfragen stellt – und dabei Klarheit erfährt. Ein Wink von oben? Er will es gerne glauben. „Es kann schon sein, dass es etwas gibt, das uns leitet oder zumindest unterstützt. Nenn es Schicksal.“

Das Schicksal schickt ihm Leonardo. Immer wieder trifft Thomas unterwegs auf den jungen Mann aus Madrid. Sie legen Teile der Strecke zusammen zurück, übernachten hin und wieder in denselben Herbergen. Sie verständigen sich mit Händen und Füßen – und Thomas meint, eine Verbindung zu spüren zwischen sich und dem gebürtigen Venezolaner. Er bekommt Gänsehaut, wenn Leonardo mit einem breiten Lächeln und einem fröhlichen „Hola“ neben ihm auftaucht. Er spürt ein Kribbeln. Freude. „Das darf doch nicht wahr sein“, flucht er innerlich. Und später grübelt er: „Das kann doch kein Zufall sein.“

„Ich war ein Feigling“

Noch während der Pilgerreise bucht er einen Flug nach Madrid zu Leonardo, um vollends herauszufinden, wie sein Leben künftig aussehen soll. „Ich musste aufs Ganze gehen“, sagt Thomas. Gleichzeitig sieht er einen Berg vor sich, der immer höher wird, je mehr er über seine Situation nachdenkt. „Zu Hause wartet deine Familie auf dich. Scheiße!“, geht es ihm durch den Kopf. „Du hast Fantasien und Ideen, aber ist das tatsächlich alles so, wie du dir das vorstellst?“ Er beschließt, seiner Frau nichts zu verraten. „Ich war ein Feigling, weil ich die Konsequenzen fürchtete.“

Er wiegt zehn Kilo weniger, als er aus Santiago zurückkehrt. Nach der Ankunft packt er erneut seinen Koffer und fliegt am nächsten Tag nach Spanien. Seiner Frau sagt er: „Ich brauche noch mal drei Tage für mich.“

Thomas genießt die Zeit mit Leonardo, der seine Homosexualität offen lebt. Er fühlt sich wie ein Teenager, der in eine fremde Welt eintaucht, die größer ist und mehr zu bieten hat, als er sich das je vorgestellt hat. Nach dem Wochenende ist ihm klarer als zuvor: „Das ist genau das, was ich will. Das ist meine Welt.“

Ein Outing kommt für ihn trotzdem nicht infrage. Noch nicht. Die Angst davor, stigmatisiert zu werden, scheint ihm zu übermächtig. Wie würde seine Frau darauf reagieren? Die Kinder? Was würden seine Eltern sagen? Die Schwiegereltern? Wie sollte das gehen mit den Vereinskameraden und Geschäftskollegen? Was passiert mit der gemeinsam gekauften Wohnung? „Nein, das schaffe ich nicht.“ – „Ach, halt doch die Fresse!“, schreit er gegen seine innere Stimme an. „Jetzt hast du die Erkenntnis und die Hosen voll.“

Nach ein paar Wochen hat er den Mut, es seiner Frau zu sagen. Sie kämpft um ihn. Um ihre Ehe. Um alles, was sie zusammen aufgebaut haben. Sie sagt: „Wenn dieser andere Mann nicht wäre, könnte alles wieder normal sein. Brich den Kontakt ab, dann kannst du vergessen und loslassen.“ – „Du verstehst nicht, was in mir ist“, sagt er. – „Dann ist unser Leben auf einer Lüge aufgebaut“, sagt sie. – „Nein. Du warst die perfekte Frau für mich. Aber du kannst mir nicht das geben, was ich brauche.“

„Bist du verliebt?“

Endlose Diskussionen folgen. Sie wirft ihm vor, 20 Jahre ihres Lebens gestohlen zu haben. Ihm ist klar, dass sie recht hat. Er wünscht ihr nichts mehr als einen Partner, der sie liebt. Er weiß, wie sehr sie leidet. Sie weiß nicht, wie sehr er gelitten hat. Sie vereinbaren, es vorerst niemandem zu sagen.

Thomas fliegt regelmäßig nach Madrid, in einer Sprachschule lernt er Spanisch. Beim Psychologen redet er sich alles von der Seele, mimt bei Rollenspielen erst den Ehemann und Vater, dann Leonardos Liebhaber. „Wo siehst du dich?“, fragt der Psychologe. „Auf dem Sofa neben Leonardo“, sagt Thomas.

Sechs Monate später verlässt er seine Familie. Die Teenager-Kinder bleiben ruhig. An einem Samstagabend fährt er mit ihnen nach Stuttgart, um bei einem Essen alles zu erklären. Was werden die Klassenkameraden sagen? Was machen wir, wenn schlecht über uns geredet wird? Er kann ihnen die Sorgen nicht nehmen. Aber er ermutigt sie, ihn alles zu fragen, was ihnen durch den Kopf geht. „Bist du verliebt?“ – „Habt ihr auch Sex?“ – „Macht ihr jetzt alles zusammen?“

Thomas erinnert sich an schwierige Monate. Daran, wie er alleine in seiner kleinen Wohnung sitzt und ihm fast die Decke auf den Kopf fällt. Wie er sich einigelt, eine Zeit lang keine Menschen ertragen kann. „Ich war in einer Situation gefangen, in der ich mich noch nicht äußern konnte“, sagt er.

Es folgt kein großes Outing. Stattdessen teilt er sich Schritt für Schritt mit. Er staunt darüber, dass niemand ihm Vorwürfe macht. Die Mutter erwidert: „Aber Thomas, das war doch schon immer klar.“ Die Sekretärin in der Bank sagt: „Jetzt ergibt alles einen Sinn.“ Freunde meinen: „Da haben wir kein Problem mit. Das ändert nichts.“ Der eigene Vater erfährt es als Letzter und ist enttäuscht, weil er sich mehr Vertrauen gewünscht hätte. „Wenn du glücklich bist, dann ist das für mich in Ordnung.“

„Ich bin eine Tussi“

Im Leben von Thomas gibt es ein Vorher und ein Nachher. Über das Vorher schüttelt er manchmal den Kopf. Es gibt Zeiten, da wog er 115 Kilogramm. „Wenn ich diese alten Bilder sehe, könnte ich kotzen.“ Damals habe er sich damit wohlgefühlt, sagt er. Heute brauche er diesen Schutzschild nicht mehr, um sein Inneres zu verbergen. 35 Kilogramm hat er abgenommen und sieht jetzt aus wie aus dem Ei gepellt. Blütenweißes Hemd, enge Jeans, weiße Sneakers. Das dunkle Haar gegelt. Alle zwei Wochen geht er zum Friseur, lässt sich dreimal im Jahr Botox spritzen. Den Bauch hat er sich straffen lassen. „Ich bin eitel.“ Er lacht. „Ich bin schon eine Tussi. Das nehme ich mir heute raus.“

Im Sommer 2019 ist Leonardo zu ihm gezogen. Im Dezember wurde Thomas geschieden. Er hat sich die Freiheit genommen, sexuelle Erfahrungen mit anderen Männern zu sammeln, bevor es mit Leonardo ernst wurde. Vor allem in spanischen Großstädten stürzte er sich in die homosexuelle Szene. Er wollte nachholen, was er sich so lange selbst versagt hatte. Männersauna, Schwulenbar, Gay-Party. Nicht alles ist sein Ding. Die sexuelle Freizügigkeit, die viele Schwule leben, passt nicht zu ihm. „Da bin ich immer noch konservativ.“

Knapp sechs Prozent der homosexuellen Männer führen laut einer Studie der Technischen Universität München mit Mitte 40 ein rein heterosexuelles Leben, oft mit Ehefrau und Kindern. Thomas ist keiner mehr davon. „Auch wenn es so scheint, als sei es die größte denkbare Hürde, sich zu bekennen. Es ist nichts dagegen, wie viel Kraft es kostet, über Jahre ein falsches Leben zu leben.“