Es gibt die guten und die schlechten Stunden: Julia und Ville Matilainen wissen, dass ihr schwerstbehinderter Sohn Linus laut Statistik nicht sehr lange zu leben hat. Foto: Keck

Linus hat dreieinhalb Zähne und liebt Obstbrei. Sprechen oder laufen wird der Einjährige nie lernen. Er hat einen Gendefekt, der sein Leben verkürzen wird. Seine Eltern betreuen ihn Zuhause – ihr größter Ärger ist der mit der Krankenkasse.

Grenzach-Whylen - Die Hände sind zu Fäustchen geballt. Der kleine Körper im hellblauen Strampler windet sich minutenlang, als ob er gegen einen unsichtbaren Feind kämpfen muss. Ein chancenloser Kampf. „Linus, kannst du auch lachen?“, fragt Ville Matilainen und hebt seinen Sohn vom Schoss in die Luft. Der 37-Jährige lässt ihn fliegen, drückt den Kleinen sanft an seine Wange, bis er gluckst. Es sind die Bartstoppeln, die ihn glücklich machen.

Dreieinhalb Zähne hat Linus. Er mag Obstbrei, auch wenn das Gelöffel ewig dauert. Er liebt es, wenn er im Wohnzimmer von seinen Eltern mit dem Rücken über einen Gymnastikball gerollt wird und er sich dabei entspannt.. Vieles wird der Einjährige nie können: „Mama“ oder „Papa“ sagen, ein Buch lesen oder laufen. Linus wurde mit einer Fehlbildung des Kleinhirns geboren. Eine genetische Erkrankung, die sehr selten auftritt und einen unaussprechlichen Namen hat: Pontocerebelläre Hypoplasie, Typ 2.

Nur wenige Dutzend Kinder in Deutschland haben die gleiche Krankheit wie Linus

„Nicht einmal die Hälfte der Kinder, die daran erkranken, wird zehn Jahre alt“, sagt Julia Matilainen. Sie hat sich eingelesen in die Studien, die ihrem Sohn und der ganzen Familie so wenig Hoffnung schenken. Nur wenige Dutzend Kinder in Deutschland, schätzen die Ärzte, sind davon betroffen. Erste Anzeichen sind Schluckstörungen, ein Zittern, dauernde Zappeligkeit. Heilung gibt es nicht, auch keine Therapie. „Wir wollen es Linus so schön wie möglich machen“, sagt die 38-Jährige. Sie hat aufgehört, zu weit in die Zukunft zu planen.

Sie erinnert sich genau an jenen Tag, als die Sorge um ihren erst wenige Monate alten Sohn einer traurigen Gewissheit wich. „Es war ein Schock, da beginnt ein Trauerprozess“, sagt Julia Matilainen. Sie hat sich entschieden, über Linus’ Schicksal zu reden, um anderen Eltern mit schwer kranken Kindern Mut zu machen. Das ist das eine. Das andere ist ihr Ärger, ihre Wut auf ein Gesundheitssystem voller Bürokratie, Anträge und Ablehnungen, das ihr die Kräfte raubt – wo sie die Reserven doch so dringend benötigt.

Sie will auch loben, und zwar jenen Professor an der Freiburger Uniklinik, der ihr die Diagnose so einfühlsam überbracht hat. An einem Mittwoch im Juni 2017 war das Arztgespräch, am Samstag die Taufe von Linus. „Erst wollten wir alles absagen, dann haben wir trotzdem gefeiert.“ Es sind Wochen, in denen immer wieder Tränen fließen, damals ist es unvorstellbar, dass sie je wieder versiegen würden.

Die Ruhe des Papas strahlt auf den zappelnden Jungen ab

„Er ist die bessere Mama“, sagt Julia Matilainen lachend über ihren Mann, der vor wenigen Tagen seine sechsmonatige Elternzeit beendet hat. Er ist ein geduldiger Mensch, seine Ruhe strahlt auf Linus ab. Gerade erst waren sie gemeinsam in seiner Heimat, in Finnland. Wenn er Linus mit seinen kräftigen Händen schaukelt, wird der Einjährige ruhig, das Zappeln hört auf. Julia und Ville Matilainen haben sich während des Pharmaziestudiums kennengelernt, leben dort, wo sie in ihrer Branche die besten Jobangebote haben: am Rheinknie bei Basel, im kleinen Ort Grenzach-Whylen. Er koordiniert klinische Krebsstudien, sie arbeitet bei einem Medikamentenhersteller in der Schweiz.

Ihr erstes Kind, ein Mädchen, ist drei. „Linus ist doch gar nicht krank“, hat die Kleine ihre Mutter vor Kurzem getröstet. Krank, das ist für sie Fieber oder Durchfall, was Linus hat, ist für die Schwester ganz normal. Die Nächte sind für die Matilainens das Schlimmste. „Er könnte erbrechen und dann ersticken. Möglich ist ein epileptischer Anfall oder ein plötzlicher Atemstillstand“, zählt Julia Matilainen auf.

Einmal ist es bisher passiert, das war tagsüber, da hat er sich aufgeregt und aufgehört zu atmen. Linus’ Lippen liefen blau an, er reagierte nicht mehr. „Ich habe ihm ganz fest auf den Rücken geklopft“, erzählt die Mutter, „dann ging es wieder.“ In den Nächten wechseln sich die Eltern im großen Krankenbett bei Linus ab, allein lassen geht gar nicht, niemals. In guten Nächten wacht er nur zwei-, dreimal auf, in schlechten zehnmal. Ein Sensor am Beinchen misst den Puls und die Sauerstoffsättigung. Wenn die Werte nicht mehr stimmen, piepst das Gerät. Mal braucht Linus ein Schmerzmittel, mal nur eine zärtliche Umarmung, damit er wieder einschläft. Manchmal dauert es einige Minuten, manchmal eine Stunde. Durchschlafen können die Matilainens seit der Geburt des Jungen nicht mehr. Auch ohne Linus an ihrer Seite schrecken sie immer wieder hoch. Sie dürfen nicht zu tief schlafen, es könnte jederzeit etwas passieren.

Ein häuslicher Kinderpflegedienst könnte die Nachtschichten übernehmen

Morgens ist Linus im Kindergarten, sonst wird er zu Hause betreut. Die Familie benötige einen Kinderpflegedienst für die Nacht, ordnete ihr Arzt an. Das Palliativpflegeteam für schwerstkranke Kinder der Uniklinik Freiburg schrieb ein Gutachten. Doch die Krankenkasse, die Metzinger BKK, lehnte den Antrag ab.

„Unfassbar“, sagt Julia Matilainen, die nach ihrer Elternzeit wieder in den Beruf zurückgekehrt ist, „ich dachte immer, im Krankheitsfall ist Hilfe da.“ Über Monate zog sich der Streit mit der Krankenkasse hin, die Sachverständigen der BKK verwiesen auf den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, der einer Unterstützung nicht zustimmte. Eine Entscheidung nach Aktenlage, „eine grausame Entscheidung“, sagen die Matilainens.

In Briefen werden sie darauf hingewiesen, dass sie vor dem Sozialgericht dagegen klagen könnten. Der häusliche Krankenpflegedienst sei halt sehr teuer, bittet die allzeit freundliche Sachbearbeiterin der Kasse um Verständnis. Sie schiebt die Verantwortung einfach weiter. Ihr seien leider die Hände gebunden, weil der Medizinische Dienst Nein signalisiert habe. „Wenn es sein muss, gehen wir den Rechtsweg“, sagen die Eltern. Sie haben in ihrer Not mit immer weiteren Empfehlungsschreiben an die Kasse nachgelegt. Lange Zeit erfolglos.

Weder die Bartstoppeln noch der Gymnastikball verbessern die Laune von Linus. Er zieht die Brauen zusammen, verzerrt den Mund, überstreckt den Rücken. Ein Unruhebündel. „Er hat Hunger“, stellt sein Papa fest, Mama bereitet das Gläschen vor. Gemeinsam schnallen sie den Kleinen im Therapiestuhl fest, allein aufrecht sitzen kann Linus nicht. Die Schlacht mit den pürierten Früchten kann beginnen.

Vor wenigen Tagen kam ein Brief von der Kasse. „Zehn Stunden täglich haben sie genehmigt“, sagt Julia Matilainen. Sie hat sich in einem Online-Forum ausgetauscht mit anderen Eltern, die alle Unterstützung erhalten haben. Immerhin, jetzt könne der Kinderpflegedienst kommen. Auf die Frage, ob sie sich gefreut habe, antwortet sie nicht sofort. Sie habe geweint, sagt sie. „Mal sehen, was als Nächstes kommt.“