Berlins Innensenator Andreas Geisel hat die grauenhafte Szenerie am Breitscheidplatz wenige Minuten nach dem Lkw-Anschlag miterlebt. Foto: dpa

Als der IS-Terrorist Anis Amri zuschlug, war Andreas Geisel seit zehn Tagen Berlins Innensenator. Er blickt zurück auf Fehler im Umgang mit den Angehörigen, auf die Entdeckung der Lücken im Sicherheitsnetz und die schmerzliche Lektion aus dem Terroranschlag.

Berlin - Niemand kann Terror ausschließen, aber heute hat Deutschland seine Gefährder besser im Blick als vor einem Jahr, sagt Berlins Innensenator Andreas Geisel.

Als der Anschlag auf den Breitscheidplatz geschah, waren Sie zehn Tage im Amt. Erinnern Sie sich an diesen Abend?
Ich war zu dem Zeitpunkt hier um die Ecke im Lokal mit den Innenpolitikern der SPD und wir haben das Jahr geplant. Mein Handy klingelte, mein Staatssekretär war dran und sagte: wir haben ein Problem. Ich bin sofort zum Platz gefahren, unterwegs telefonierte ich mit dem Regierenden Bürgermeister. Wir waren eine halbe Stunde nach der Tat am Tatort.
Sie gehören zu den Leuten, die die schreckliche Szenerie unmittelbar gesehen haben.
Ja, ich habe Bilder gesehen, die man sich nicht wünscht. Es herrschte eine unwirkliche Stille des Schocks. Ergreifend war aber auch die Ruhe, mit der die Retter und Helfer dort arbeiteten. Die handelnden Personen wussten, was sie taten.
Als Politiker spürt man vermutlich in so einem Moment irgendwann die Dimension der Verantwortung, die man hat. Können Sie das beschreiben?
So einen Moment gab es im Auto auf dem Weg dahin. Theoretisch hatte ich mich damit einige Tage zuvor beschäftigt, weil ich mit Mitarbeitern darüber geredet hatte, dass man für einen solchen Notfall gewappnet muss. Ich dachte, man muss vorbereitet sein. Das war ich aber nicht. Ich habe mich dann auf das Bestreben konzentriert, Ruhe und Besonnenheit auszustrahlen. Ich dachte an den Amoklauf von München wenige Wochen vorher.
Damals hatte die Polizei die Münchner aktiv aufgerufen, Schutz zu suchen.
Ja, aus meiner Sicht hatte es sich da gezeigt, dass es nicht gut ist, die Stadt zusätzlich in Unruhe zu versetzen. Mein Ziel war es, soweit wie möglich Ruhe und Sicherheit auszustrahlen
Aber Anis Amri, der Täter vom Breitscheidplatz, war in der Stadt unterwegs, es hätte weitere Opfer geben können. Warum haben sie also trotz dieses Wissens aktiv entschieden, keine derartigen Warnungen auszusprechen?
Erstens wusste ich das damals noch nicht und zweitens, weil eine Stadt in Angst niemandem hilft. Man kann letztlich in so einem Fall mit einer solchen Warnung nichts steuern. Aber im schlechtesten Fall lösen Sie mit einer Warnung Situationen aus, die sie auch nicht steuern können.
Mit dem Wissen von heute – auch um Ermittlungspannen – was würden Sie heute anders machen?
Ich würde sicher nach der Tat anders informieren: Damals waren wir davon ausgegangen, dass Anis Amri ein kleinkrimineller Dealer war und insofern keine konkrete juristische Möglichkeit bestand, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Wie wir heute wissen, war das nicht richtig. Die Akten sind in diesem Punkt nach der Tat verändert worden. Der Verdacht der Manipulation steht im Raum.
Sie haben, als sie die Manipulation im Mai bemerkten, Strafanzeige gegen Unbekannt im eigenen Landeskriminalamt gestellt. Das hat man ihnen in der Polizei übelgenommen. Haben Sie zu scharf reagiert?
Nein. Das ist sicherlich eine Gratwanderung, aber ich würde es heute wieder tun. Nach einem Terroranschlag mit zwölf Toten und 65 Verletzten stellt sich heraus, dass die Öffentlichkeit sehr wahrscheinlich bewusst auf eine falsche Spur gesetzt worden ist. Die betroffenen Beamten mögen das getan haben, um einen eigenen Fehler zu verdecken. Ich stehe hinter den Mitarbeitern, aber eine Behörde hat nur Vertrauen in der Öffentlichkeit verdient, wenn sie gegen Fehlverhalten Einzelner in den eigenen Reihen konsequent vorgeht.
Im Fall des Täters Anis Amri stehen einem angesichts der vielen Sicherheitspannen als normalem Bürger inzwischen die Haare zu Berge. Sie waren in der Zeit vor dem Anschlag nicht im Amt, sind jetzt aber politisch verantwortlich. Wie erklärt ein Innensenator einem Hinterbliebenen, warum Amri nicht gestoppt, nicht festgenommen, nicht abgeschoben wurde?
Ich sehe die Pflicht gegenüber Angehörigen und Opfern, dass wir größtmögliche Aufklärung leisten, auch da, wo es weh tut. Wir sind im regelmäßigen Gespräch. Die Aufklärung von Fehlern ist retrospektiv wichtig, aber auch für die Zukunft. Wir müssen aus den Fehlern lernen. Denn die Bedrohungssituation durch den Terror ist nicht besser geworden.