Die sechsjährige Lara-Maria hörte im Stade de France Detonationen. Foto: Privat

Michael Jörg, der mit seiner sechsjährigen Tochter und seiner Freundin im Stade de France war, wird sich der Gefahr erst jetzt richtig bewusst, in der sie schwebten.

Herrenberg - So eine Nervosität, so eine Unruhe habe er noch nie verspürt, sagt Michael Jörg. Ob er weiter zur Arbeit gehen kann, weiß er noch nicht. Jetzt werde er erst einmal einen Arzt aufsuchen, vielleicht könne der ihm helfen. Der 28-Jährige hat die Detonationen

am Pariser Stade de France miterlebt, als er am vergangenen Freitagabend das Fußballspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich verfolgte – mit seiner sechs Jahre alten Tochter Lara-Maria und seiner 22-jährigen Freundin Tamara. Es sollte ein unbeschwerter Ausflug in die Seine-Metropole werden. Lara-Maria wollte endlich einmal den Eiffelturm sehen. Michael Jörg wollte ihr erstmals ein großes Stadion zeigen, wo eine andere Atmosphäre herrscht als auf den Sportplätzen, die sie hin und wieder besucht. Wenn ihr Papa als Schiedsrichter ein Spiel in der Bezirksklasse pfeift.

In das Stade de France zu gehen, war zunächst gar nicht geplant. „Dann habe ich aber im Internet gesehen, dass es noch Karten gibt. Für 25 Euro pro Nase, auf der Haupttribüne“, sagt Michael Jörg. Sightseeing stand eigentlich auf dem Programm, Lara-Maria wollte auch auf die Avenue des Champs-Élysées, „über die im Radio gesungen wird“. Sie fuhren am Triumphbogen vorbei auf die Prachtstraße. Michael Jörg stellte auf seinem MP3-Player das Lied „Oh, Champs-Élysées“ ein. „Vielleicht vergisst sie diesen Moment in ihrem Leben nie wieder“, dachte der Vater.

„Papa, ich hab’ Angst“

Andere Momente wird sie vielleicht auch nicht so schnell vergessen, auch wenn sie im Kindergarten erzählte, „dass es in Paris toll war“. Michael Jörg und dessen Freundin taten alles, um dem Kind die schreckliche Wahrheit zu ersparen. Als die erste Bombe hinter der Gegentribüne explodierte, erklärte der Vater: „Das war nur ein Böller, wie an Sylvester. Keine Sorge Schatz.“ Kurz darauf gab es den zweiten lauten Knall. Etwas weiter links als zuvor: „Die Menschen wurden unruhig. Meine Tochter drückte sich an mich. ,Papa, ich hab’ Angst`, sagte sie. ,Mach’ Dir keine Sorgen’, habe ich sie beruhigt.“

Dann war Halbzeit: „Wir wussten von nichts. Unser Smartphone half uns auch nicht, wir hatten keinen Zugang zum Internet.“ Michael Jörg und seine Begleiterinnen wurden wenig später noch von einer dritten Detonation in Angst und Schrecken versetzt. „In Stadionnähe ging eine dritte Bombe hoch. Die Tribüne vibrierte. Lara-Maria drückte sich wieder an mich. Ich versuchte, sie erneut zu beruhigen.“ Bis Spielende hatten sie keine Ahnung, was passiert war. Wenig später dann trafen SMS von ihren Freunden ein.

Kurz vor einer Massenpanik

Viele Zuschauer drängten in Richtung der Ausgänge. „Wir sind erst einmal sitzen geblieben, Als es leerer wurde, sind auch wir aufgestanden. Mehrere Hubschrauber flogen knatternd über das Stadion. Polizeifahrzeuge waren zu hören“, beschreibt Michael Jörg die beängstigende Szenerie. Als sie nach dem Treppenabgang durch das Absperrtor wollten, hörten sie Menschen schreien. Viele stürmten in Panik zurück, um auf das Spielfeld zu gelangen und dem Tohuwabohu vor dem Stadion zu entkommen. Michael Jörg hielt seine Tochter auf dem Arm, kurze Zeit verlor er seine Freundin aus den Augen.

„Papa, warum rennen die Leute so?“, habe ihn Lara-Maria angstvoll gefragt. „Die wollen alle den Zug bekommen, mit dem sie hier sind“, habe er ihr geantwortet. Über Videoleinwände flackerten ständig Hinweise. Lautsprecherdurchsagen hallten durch das Stadionareal. „Ich hätte erwartet, dass man uns wenigstens auf Englisch informiert hätte, wenn schon nicht auch auf Deutsch“, sagt Michael Jörg. Sie fühlten sich allein gelassen. Immerhin erklärte ihm ein Ordner, sie könnten das Stadion verlassen, draußen sei es nun sicher.

Krankenwagen am Ort der Detonation

Dort standen Krankenwagen, offenbar an der Stelle, wo sich einer der Attentäter in die Luft gesprengt und einen Menschen mit in den Tod gerissen hatte. „Ich schaute lieber gar nicht richtig hin. Ich wollte nur noch meine Lieben in Sicherheit bringen. Ich war voller Adrenalin. Unser Auto stand drei Kilometer vom Stadion entfernt.“

Um fünf Uhr morgens waren sie am Freitag in Herrenberg-Oberjesingen gestartet. Am Abend war es knapp geworden, rechtzeitig ins Stadion zu kommen. Sie hatten irgendwo in einem Wohngebiet auf dem Gehweg wild geparkt, so wie es andere auch getan hatten. Weil es vor dem Stadion keine Parkplätze mehr gegeben hatte und kein Durchkommen mehr war. Mit Hilfe des Flutlichtschimmers am Nachthimmel hatten sie das Stade de France dann überhaupt gefunden. „Wir saßen auf unseren Plätzen, als die beiden Mannschaften gerade das Spielfeld betraten“, berichtet Michael Jörg. Nicht auszudenken, wenn sie ein paar Minuten später dran gewesen und nicht mehr ins Stadion hineingelassen worden wären. So wie es offensichtlich den Attentätern ergangen war, die danach ihre Bomben außerhalb gezündet hatten.

„Ich muss mit den Leuten darüber reden“

„Wir hatten unglaubliches Glück“, sagt Michael Jörg und ist „immer noch völlig aufgewühlt“. Am Samstagabend seien sie wieder zu Hause in Oberjesingen gewesen. Nachdem sie seine Tochter Lara-Maria bei ihrer Mutter abgegeben hatten, von der Michael Jörg getrennt lebt. Am Montag danach war er zwar zur Arbeit gegangen, am Dienstag kam „jetzt aber alles erst richtig hoch“. Er hätte mit Freunden zum Bundesligaspiel des VfB Stuttgart in Dortmund gehen können, aber vorerst möchte er in kein Stadion mehr. Er wolle einfach nur zu Hause sein. Mit seiner Freundin habe er über die schrecklichen Erlebnisse gesprochen, sie wolle sich dazu nicht äußern und auch nicht mit ihrem Nachnamen in der Presse auftauchen. „Ich aber“, sagt Michael Jörg, „muss mit den Leuten darüber reden.“