Künstlerische Darstellung einer Neandertaler-Sippe vor ihrer Höhlenbehausung. Foto: Imago/United Archives International

Der Homo sapiens konnte seinen Nachwuchs offenbar besser vor Hunger oder Krankheiten schützen als der Neandertaler. Das fanden Forscher der Universität Tübingen anhand von hunderten Zahn-Analysen heraus. Vor allem durch das Abstillen waren Neandertaler-Kleinkinder großem Stress ausgesetzt.

Das Leben des Neandertalers war hart, sehr hart. Der Frühmensch war den Launen der Natur ausgesetzt und musste gefährlichen Tieren wie Mammuts, Höhlenbären und Wollnashörnern nachjagen, um zu überleben.

Bis vor rund 42 000 gehörte Europa dem Homo neanderthalensis, der zwischen 450 000 und 40 000 die Steppen und Höhlen Süd-, Mittel- und Osteuropas bevölkerte. Der ausgestorbene Verwandte des heutigen Menschen entwickelte sich in Europa – parallel zum modernen Menschen in Afrika – aus gemeinsamen afrikanischen Vorfahren der Gattung „Homo“.

So könnten Neandertaler ausgesehen haben. Foto: Imago/Pond5 Images
Urzeit-Diorama: Der Neandertaler- Nachwuchs war wahrscheinlich vergleichbaren Belastungen ausgesetzt wie der des Homo sapiens. Foto: Imago/Pond5 Images

Zahnstruktur spiegelt Stressphasen in Entwicklung wieder

Der Neandertaler-Nachwuchs war wahrscheinlich vergleichbaren Belastungen ausgesetzt wie der des Homo sapiens. Jedoch lag die jeweilige höchste Intensität in verschiedenen Entwicklungsphasen. Das hat die Untersuchung von Zähnen ergeben, die von Laura Limmer, Sireen El Zaatari und Katerina Harvati vom Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie der Universität Tübingen gemeinsam mit einem internationalen Forscherteam durchgeführt wurde.

Die Zahnstruktur spiegelt demnach Stressphasen etwa durch Krankheiten und Mangelernährung während der frühen Lebensjahre wieder. Ihre Studie ist jetzt im Fachmagazin „Scientific Reports“ erschienen.

867 fossile Zähne untersucht

Die Forscher vermuten, dass die modernen Menschen möglicherweise bessere Strategien hatten als die Neandertaler, um die Belastungen für ihre Kinder während schwieriger Abschnitte der Entwicklung zu verringern.

Vermutlich beim Zahnwechsel verlor ein Neandertaler-Kind vor 40 000 bis 70 000 Jahren diesen Milchzahn. Foto:  ERC project Success/University of Bologna, Italy/www.uni-frankfurt.de/93639226

Die Paläoanthropologen untersuchten insgesamt 867 Zähne, davon stammten 423 von 74 Neandertaler-Individuen und 444 von 102 Individuen moderner Menschen aus der Jüngeren Altsteinzeit. Die Zähne wurden an 56 verschiedenen archäologischen Stätten im westlichen Eurasien gefunden. Sowohl die Milchzähne als auch die bleibenden Zähne der Menschen werden bereits in der Kindheit gebildet.

Karte mit den 56 untersuchten Fundorten. Foto: Laura Sophia Limmer/Scientific Reports

Fehlbildungen im Zahnschmelz

„Wenn die Kinder Infektionen oder andere Krankheiten durchmachen oder die Ernährungslage schlecht ist, kommt es zu Fehlbildungen im Zahnschmelz. Da die bleibenden Zähne später nicht weiterwachsen, können wir solche Defekte auch noch an den Zähnen Erwachsener erkennen“, erklärt Sireen El Zaatari. Die reguläre Schmelzbildung der Zähne ermöglicht es, solche Ereignisse mit bestimmten Entwicklungsstufen der Kinder in Verbindung zu bringen.

Die roten Pfeile zeigen die Schmelzdefekte im Zahn eines Neandertalers. Foto: Laura Sophia Limmer/Scientific Reports

Insgesamt seien die Neandertaler und die modernen Menschen aus der Jüngeren Altsteinzeit in ihrer frühen Kindheit Belastungen in vergleichbarem Ausmaß ausgesetzt gewesen, stellen die Forscher fest. „Wir beobachten jedoch eine unterschiedliche Verteilung der Zahnschmelz-Defekte auf die Entwicklungsphasen der Kinder: Bei den modernen Menschen traten die Schmelzdefekte mit größerer Wahrscheinlichkeit in dem Alterszeitraum auf, in dem die Kinder abgestillt wurden“, betont Limmer.

Bei den Kindern der Neandertaler hätten sich Schmelzdefekte zwar ebenfalls vermehrt zum Zeitpunkt des vermutlichen Beginns des Abstillens gezeigt. Jedoch habe die Spitzenbelastung durch physischen Stress in einer Entwicklungsphase nach diesem Zeitraum gelegen.

Durch Abstillen vermehrt Stress ausgesetzt

Die Forscher nehmen an, dass die Kinder der Altsteinzeit durch das Abstillen vermehrt Stress ausgesetzt waren, weil ein steigender Energiebedarf im Wachstum mit dem steigenden Risiko von Mangelernährung zusammentraf.

„Möglicherweise gewannen die modernen Menschen gegenüber den Neandertalern dadurch Vorteile, dass sie ihre Kinder in dieser schwierigen Phase besser unterstützten, etwa dadurch, dass die Kinder länger beschützt und besser mit Nahrung versorgt wurden“, erläutert El Zaatari.

Denkbar sei, dass dieses Verhalten ein Baustein gewesen sei bei der Entwicklung, dass die modernen Menschen bis heute überlebten und die Neandertaler ausstarben. „Häufig wurde angeführt, dass die Neandertaler in einem besonders rauen Klima mit niedrigen Temperaturen lebten und daran scheiterten“, schreiben die Paläoanthropologen. „Über einen gewissen Zeitraum waren jedoch Neandertaler und moderne Menschen den gleichen Klimabedingungen ausgesetzt, sodass wir auch andere Erklärungen untersuchen.“