Überfällig: Ein Grammy für Kraftwerk, Deutschlands wichtigsten Beitrag zur Geschichte der populären Musik. Foto: dpa

Ohne Kraftwerk gäbe es keinen Synthiepop, keinen House, kein Techno. Die Elektropioniere aus Düsseldorf werden im Januar mit einem Grammy für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

Ohne Kraftwerk gäbe es keinen Synthiepop, keinen House, kein Techno. Die Elektropioniere aus Düsseldorf werden im Januar mit einem Grammy für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

Die A 555 zwischen Köln und Bonn taugt – anders als die Route 66 oder der Highway 61 – nicht zum Schauplatz der On-The-Road-Romantik des Rock’n’Roll. Vielleicht deshalb interpretiert der Song „Autobahn“ die Besessenheit der Popmusik vom Unterwegssein völlig neu. Die repetitive, monotone Synthesizersinfonie, die weder Heim- noch Fernweh kennt, ist eine Hymne an die Gleichförmigkeit des Fahrens, auf das Eintönige, Ereignislose. Das unternehmungslustige „Fun, Fun, Fun“ der Beach Boys hat sich in ein nüchternes „Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ verwandelt.

Als Kraftwerk im Januar dieses Jahres in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf „Autobahn“ spielten, fuhren auf der Leinwand hinter den vier Maschinenbedienern 1970er-Jahre-Modelle von Mercedes und Porsche und ein VW-Käfer mit dem Kennzeichen D – KR 70 durch eine trostlose 3-D-Welt. Diese ahmte Emil Schults Cover des „Autobahn“-Albums nach – jene Platte, mit der Ralf Hütter und seine Band Kraftwerk vor 39 Jahren den Elektropop erfunden haben. Im November 1974 gaben dieses Album und diese Band das Signal für eine elektronische Zeitenwende in der Populärmusik. Bis heute dürfen Kraftwerk als der wichtigste Beitrag Deutschlands zur internationalen Popmusik gelten. Weil man das auch und gerade in den USA zu schätzen weiß, werden Kraftwerk im Januar bei der Grammy-Verleihung im Staples-Center in Los Angeles mit einem Sonderpreis fürs Lebenswerk ausgezeichnet. Kraftwerk seien „eindeutig ihrer Zeit voraus gewesen“, heißt es in der Begründung der Jury. Der Grammy ist so etwas wie der Oscar der US-Musikindustrie.

Auch sonst sind Kraftwerk ein einzigartiges Musikprojekt. So sieht das zum Beispiel Marion Ackermann, die früher das Stuttgarter Kunstmuseum leitete und jetzt Chefin der Kunstsammlung Nordhein-Westfalen ist: „Kraftwerk nimmt eine Sonderstellung ein, weil die Analogien zur bildenden Kunst so wichtig sind: der Bezug zu Beuys und Bernd und Hilla Becher im Frühwerk zum Beispiel. Der nüchtern-analytische Becher’sche Ansatz hat viel mit Kraftwerk zu tun. Auch das Strenge bei Gerhard Richter. Dieses Kalte, Analytische macht Kraftwerk außergewöhnlich – das Selbstreflexive und die Tatsache, dass es eigentlich Pop über Pop ist, dass die eigenen Medien reflektiert werden.“

Jedes Kraftwerk-Album ein Meilenstein der Musikgeschichte

Marion Ackermann war die Konzertreihe „Der Katalog 1 2 3 4 5 6 7 8“ in Düsseldorf zu verdanken , bei der Anfang des Jahres an acht Abenden jeden Tag ein anderes Kraftwerk-Album auf dem Programm stand. Zum Auftakt wurde „Autobahn“(1974) aufgeführt, mit „Tour de France“ (2003) ging die Performance-Reihe zu Ende, die bereits im April 2012 im Moma in New York gastiert hatte und im Februar 2013 auch in der Tate Modern in London Station machte.

Wie von Kraftwerk nicht anders zu erwarten, waren die Shows eigentlich keine Konzerte, sondern jeder Abend ein Gesamtkunstwerk. An die Konzertbesucher wurden 3-D-Brillen verteilt, damit die Videoprojektionen auf der Leinwand hinter der Bühne den Eindruck erwecken konnten, dass einem Zahlen, Noten, Tabletten oder Scherben um die Ohren fliegen.

Tatsächlich ist jedes Kraftwerk-Album ein Meilenstein der Musikgeschichte. Nicht nur die Platte „Autobahn“ (1974), die für Kraftwerk die Wende vom Krautrock zur elektronischen Musik darstellte, sondern zum Beispiel auch „Computerwelt“ aus dem Jahr 1981. Als Bands wie Depeche Mode, New Order oder OMD Kraftwerk-inspirierten Synthiepop gerade zum Mainstreamphänomen machten, waren Ralf Hütter und Florian Schneider, die bis 2008 den Kern von Kraftwerk bildeten, längst schon ganz woanders – nahmen mit ihren Beatcollagen, mit zickig-zackigen Synthiebass-Rhythmen Techno und House vorweg. In den blubbernden Sequenzern des Titelsongs ebenso wie in „Heimcomputer“, dessen spröder Beat in neongrün flimmernde 3-D-Streifenmuster übersetzt wird. Oder in dem Stück „Taschenrechner“: „Ich bin der Musikant mit Taschenrechner in der Hand“, behauptet Hütter darin: „Ich addiere / Und subtrahiere / Kontrolliere / Und komponiere / Und wenn ich diese Taste drück / Spielt er ein kleines Musikstück.“ Der Künstler als einer, dessen Job nur daraus besteht, mit Zahlen umzugehen, als einer, der einem Rechner die kreative Arbeit überlässt – das ist auch im Jahr 2013 noch eine provozierende These.

Eine solche Verschmelzung von Mensch und Maschine war immer zentrales Motiv im Kraftwerk-Œuvre. In den zur Abstraktion, zum Strukturalismus und zum Formalismus neigenden Ton- und Bildgestaltungen Kraftwerks begegnet man diesen entmenschlichten Gerätebedienern natürlich ständig wieder – ob in „Schaufensterpuppen („Wir stehen herum / Und stellen uns aus / Wir sind Schaufensterpuppen“) oder im Popmanifest „Die Roboter“ („Wir funktionieren automatik / Jetzt wollen wir tanzen mechanik“).

Ein flackernd-flimmernder Mittelstreifen kann da in der „Autobahn“-Inszenierung zum Pendant zu Kubricks Sternenreise aus „2001 – Odyssee im Weltall“ werden, zur Meditation über das Immerweiter. Denn auch wenn der VW-Käfer am Ende des Stücks eine Ausfahrt nimmt, bleibt„Autobahn“ eine der Kraftwerk-Oden auf das Nie-zum-Ende-Kommen. Ebenso wie das sich dramatisch steigernde „Trans Europa Express“, die Radsuite „Tour de France“ oder das Stück „Techno Pop“, in dem Hütter verkündet: „Es muss immer weitergehen / Musik als Träger von Ideen.“ Und man kann sich sicher sein, egal wohin sich die elektronische Musik in den nächsten Jahren bewegt, Kraftwerk waren längst schon da.