Die jungen Flakhelfer reinigen im Jahr 1944 ihre Unterkunft in Vaihingen. Foto: privat

Vaihingen ist für Günter Aichele ein wichtige Lebensstation. Dort tat er 1944 als Flakhelfer Dienst. Über seine Erlebnisse schrieb er ein Buch. Auslöser war unter anderem eine Umfrage, deren Ergebnis der gebürtige Stuttgarter noch immer nicht glauben kann.

Vaihingen - An den Schulunterricht in Vaihingen hat Günter Aichele kaum mehr eine Erinnerung. „Die Flak war mir wohl wesentlich wichtiger als die Schule“, schreibt er daher auch in seinem Buch „Schülersoldaten – Soldatenschüler.“ Den 15-Jährigen Flakhelfer haben im Jahr 1944 ganz andere Dinge beschäftigt. Damals als er zusammen mit seinen Klassenkameraden in Vaihingen Dienst tat. Davon zeugen auch drei aus dieser Zeit erhaltene Heftchen. Dort werden ausführlich die Einzelteile eines Geschützes und die Auswirkungen verschiedener Kampfstoffe beschrieben. „Vaihingen war eine wichtige Station unseres Lebens“, sagt Aichele mehr als 68 Jahre später. So prägend, dass sich Außenstehenden am 10. Januar 1994 auf dem Hof des Wagenburg-Gymnasiums ein seltsames Schauspiel bot. Ein Dutzend älterer Herren spielte ihre Einberufung als Flakhelfer 50 Jahre zuvor nach. Der Weg führte sie damals nach Vaihingen und später nach Auschwitz. Aichele und seine Klassenkameraden vom Dillmann-Gymnasium bildeten das „sechste Geschütz“.

Der Buchautor, der in Freiburg lebt, hat viel über diese Zeit nachgedacht, die für einen Jugendlichen wohl nicht widersprüchlicher hätte sein können. Nach dem Treffen im Jahr 1995 zeichnete er für ein kleines Büchlein mit den Erlebnissen der einstigen Flakhelfer verantwortlich. 200 Exemplare wurden gedruckt. Der Versuch einer Erinnerung – mehr nicht. „Das war zu kurz gesprungen“, sagt Aichele. Der studierte Maschinenbauer ist das Schreiben gewohnt. Viele Standardwerke zum Thema Schweißen hat er geschrieben, derzeit arbeitet der 83-Jährige an einer Neuauflage zur Geschichte des Schweißens.

Doch wer weiß, was passiert wäre, wenn er nicht die Ergebnisse einer Umfrage aus dem Jahr 2010 zu Gesicht bekommen hätte, über die er heute noch den Kopf schüttelt: „Ich kann es immer noch nicht glauben.“ Dass 16 Prozent der Deutschen einen Führer haben wollen, der das Land mit starker Hand reagiert, ist auch wirklich starker Tobak.

Aichele bestreitet aber nicht, dass es im auch ein persönliches Anliegen war, das Buch zu schreiben. Die Zeit als Luftwaffenhelfer hat ihn nie ganz losgelassen. Viele Dinge aus dieser Zeit hat er aufgehoben. Etwa eine Armbinde auf der ein Stempel und die Worte „Deutsche Wehrmacht“ stehen. „Das ist eine echte Rarität“. Mit der Binde wollten die Helfer bei einer möglichen Gefangennahme klarmachen, dass sie Soldaten sind. Sonst wären sie von den Russen als Freischärler sofort erschossen worden.

Für sein Buch scheute der Diplomingenieur keine Mühe. Ein halbes Jahr recherchierte er in Archiven, ein weiteres halbes Jahr ging fürs Schreiben drauf. Aus der Urquelle, dem kleinen Büchlein, wurde ein 430 Seiten starkes Buch. „Ich wollte wissen, wie sieht das ganze von oben aus“, sagt Aichele. Die Berichte der Flakhelfer wurden in den politischen Zusammenhang eingebettet. Nein, der Autor bestreitet nicht, dass er und seine Klassenkameraden gern zur Flak gegangen sind. Eine Spur Abenteuerlust war sicherlich dabei, verbunden mit der Aufgabe, die Städte, Mütter und Familien vor den Bomben zu schützen.

Kunsthonig und lange Unterhosen

Aichele hat die Bilder vom Antreten am 10. Januar 1944 noch in seinem Kopf. „Ich bin mit einem guten Gedächtnis gesegnet“, sagte der Vater und Opa. Mit Rucksäcken, Koffern, Pappschachteln und meist mit „leichten Halbschuhen bekleidet“ ging es zum Schlossplatz und von dort mit der Straßenbahn nach Vaihingen. „Unser Stimmung war sehr gut, im Gegensatz zum Wetter“, schreibt Aichele. Ihr Weg führte die Schüler über die Katzenbachstraße zu der am Ortsrand gelegenen Stabsbaracke. Der 15-Jährige kannte zwar Nellingen auf den Fildern, weil dort Verwandtschaft lebte. Vaihingen war für ihn damals eher ein weißer Fleck: „Was hätte man da auch tun sollen“, fragt er mehr als 68 Jahre später.

Günter Aichele hat in einem Schulheft notiert, wann die Flakgeschütze abgefeuert wurden. So steht etwa hinter dem Datum 15./16. März der Vermerk „Terrorangriff“. Ein ironischer, fast spöttischer Unterton findet sich in einigen Kapiteln. „Ich hab’s wohl auch damals nicht so ernst genommen“, sagt Aichele. Manches hört sich schon sehr absurd an. Etwa die Tatsache, das auch im Sommer lange Unterhosen getragen werden mussten, um die Haut vor dem „fürchterlichen Stoff“ der eigentlichen Beinkleider zu schützen. Auch das Essen ist Aichele ein Kapitel wert. Das wichtigste Ergebnis der Kriegswirtschaft sei der Kunsthonig gewesen: eine süßlich schmeckende weiß-graue Masse.

Doch Aichele spannt den Bogen weiter und versucht zu ergründen, wie es dazu kommen konnte, dass Jugendliche im gemeinsamen Dienst eine gewissen Geborgenheit fanden und als der Weg die Gruppe nach Auschwitz führte, sich „auf die neue Aufgabe freuten“. „Man hat vieles hingenommen, ganz im Gegensatz zur heutigen Jugend“, sagt der einstige Stuttgarter, der seine Kindheit auf dem Weißenhof verbrachte. Er macht aber keinen Hehl daraus, was er von Hitlers Schutzstaffel hielt: „Flak ja, Partei und Goldfasane: nein, SS: auf keinen Fall.

„Der Schleier lüftete sich nur wenig“

Im Juli 1944 wurde die Gruppe um Aichele samt Kanonen nach Auschwitz verlegt. Was damals nicht groß hinterfragt wurde, beschäftigt den einstigen Flakhelfer in seinem Buch. Warum wurden die Kanonen abgezogen, welche die Zivilbevölkerung schützen sollten? Heute weiß er: die vierte sich im Bau befindende Buna-Fabrik in Oberschlesien – in den Werken wurde unter anderem Kautschuk für die Reifen gewonnen – sollte geschützt werden. Wer heute Auschwitz hört, denkt sofort an den Massenmord der Nazis. Im Jahr 1944 war dies anders. „Erst später mussten wir begreifen, dass wir ein Teilchen eines mörderischen Räderwerks waren“, schreibt Aichele. Und an anderer Stelle heißt es: „Aber der Schleier lüftete sich nur wenig und sicher trifft auch auf uns der Vorwurf zu, dass wir Hinweisen nicht nachgegangen sind.“

Dem Bub Aichele beschäftigten damals wohl auch andere Dinge. So schreibt er an seinen Vater im November 1944: „Überhaupt bemühen wir uns im Dienst immer eine ,Ruhige’ zu schieben, und unser größter Stolz ist, wieder einmal nichts getan zu haben.“

Das Überleben stand an erster Stelle

Doch die Front rückte Anfang 1945 näher. Zum rettenden Engel wurde ein Hauptmann, der auch noch den Nachnamen Engel trug. Sein Ausspruch „Na, Kearls, jetzt vaschießn wa unsere Munition und dann gehn wa stiften“, ist Aichele heute noch in den Ohren. Mit einem auf Butterbrotpapier gezeichneten Fluchtplan traten die „Kearls“ den Rückzug an. „Wir wollten keine Helden sein, sondern überleben“, sagt Aichele. Am 1. Februar 1945 erreichte er Bad-Cannstatt. In Schwäbisch Hall verbrachte er die letzten Kriegsmonate. Als ein Büttel durchs Dorf ging, „hörten“ er und ein Nachbarjunge diesen nicht. Nach dem Krieg drückten Aichele und seine Kameraden wieder die Schulbank: „Als wäre nichts gewesen.“

Aichele blickt auf ein erfolgreiches Berufsleben zurück, er hat viel von der Welt gesehen. Doch die Zeit in Vaihingen wird er nie vergessen. Das Buchprojekt ist für ihn abgeschlossen: „Ich bin damit fertig“, sagt Aichele. Mit seiner eigenen Vergangenheit hat er endgültig seinen Frieden geschlossen. Viel Zuspruch hat er für sein Werk erfahren und hofft zugleich, dass die Jüngeren einen Blick hineinwerfen. „Ein Volk sollte aus seiner Geschichte lernen“, schreibt Aichele in seinem Epilog. Dem ist nichts hinzuzufügen.