Faraz Fallahi hat das Chronische Erschöpfungssyndrom. Das Leben des Esslingers hat sich nach Sterben angefühlt. Dann aber rettet ihn ein Tweet.
Faraz Fallahi wohnt längst wieder bei seinen Eltern. Er starrt die meiste Zeit an die Decke, in seinem Zimmer in Esslingen, in dem nur ein paar fahle Lichtstrahlen durch die fast ganz geschlossene Jalousie fallen. Fallahi, 40, kann nicht aufstehen, nicht arbeiten, nicht duschen, nicht aufs Klo gehen. Aber er kann mit seiner Frau die Serie „Scrubs“ anschauen. „Das ist Lebensqualität“, sagt Fallahi. Es war ein riesiges Glück, wieder so weit zu kommen.
Wenige Monate vorher, Herbst 2022: Immer wieder zieht sich ein Brennen über Fallahis Wirbelsäule bis zum Kopf. Wenn er einschläft, durchzuckt es seinen Körper, er nennt das Gehirnkrämpfe. Es fahren Blitze durch seinen Kopf, der Atem setzt aus. Wie wenn man ihm, einfach so, einen Schlag mit dem Defibrillator versetzen würde, alle 15 Minuten. „Ich wusste nicht, dass man solche Schmerzen haben kann, ohne zu sterben“, sagt Fallahi. Berührungen auf der Haut tun weh. Wenn es ihm richtig schlecht geht, kann ihn seine Frau Cassandra Fallahi nicht in den Arm nehmen. „Manchmal sind wir nur dagelegen und haben uns in die Augen geschaut“, sagt Fallahi.
Alles zieht Energie, strengt an, schmerzt
In dieser Zeit tritt Faraz Fallahi einem Sterbehilfeverein bei, plant seinen Tod. Neben seiner Frau Cassandra Fallahi stimmt er zudem allen Punkten der Patientenverfügung zu – keine lebensverlängernden Maßnahmen. Er will aufgeben.
Fallahi hat ME/CFS, das Chronische Erschöpfungssyndrom. ME/CFS bedeutet: Fallahi strengt jeder äußere Reiz an: Licht, Lärm, Handybildschirm, alles zieht Energie, strengt an, schmerzt, selbst die vertrauten Stimmen seiner Frau und seiner Familie verträgt er nur in Dosen. Macht Fallahi zu viel, kracht sein Körper in sich zusammen. Alle Symptome, die er ohnehin hat, werden dann noch schlimmer.
Man könnte ihn als seltenen Einzelfall abtun, als tragisches Schicksal, das einen schon nicht treffen wird. Aber es gibt 300 000 Menschen in Deutschland mit dieser Krankheit, und das sind Zahlen von vor der Coronapandemie. Dazu kommen laut einer Studie etwa eine Million Long-Covid-Betroffene in Deutschland. Man weiß, dass viele von ihnen ME/CFS entwickeln. Fallahi steht auch für das, was bei ihrer Behandlung schieflaufen kann. Und für die Hoffnung auf Heilung.
Der Kopf will, aber der Körper darf nicht
Das Chronische Erschöpfungssyndrom kommt irgendwann 2018 in das Leben von Faraz Fallahi. ME/CFS wird von Infektionen ausgelöst, das kann durch das Epstein-Barr-Virus sein, die Grippe oder eben Covid. Fallahi ist in dem Jahr mehrmals krank, was das Erschöpfungssyndrom bei ihm ausgelöst hat, kann man nicht genau sagen. Aber immer wenn es ihm gut geht, arbeitet er mehr, versucht Sport zu machen. Jedes Mal haut es ihn danach um, das ist typisch für die Krankheit. Aber Ärzte stufen seine Beschwerden als psychosomatisch ein. Auch das sei typisch bei ME/CFS-Erkrankten, sagt die Medizinerin und Professorin für Medical Humanitys an der Uni Fribourg, Martina King: „Die Krankheit ist ganz klar organisch.“
Im Februar 2020 wird Fallahi in eine Klinik für Psychosomatik überwiesen. Ihm wird eine Bewegungstherapie verschrieben, über mehrere Wochen. Während bei vielen Patienten leichte Übungen aktivierend wirken, ist das für Menschen mit dem Erschöpfungssyndrom katastrophal. Genau wegen der körperlichen Einbrüche, die auch Fallahi zu dem Zeitpunkt schon mehrfach erlebt hat, Post-Exertional Malaise (PEM) heißt das. Oft erholen sich Erkrankte nie vollständig davon, ihr Zustand ist dauerhaft schlechter. Um diesen Zusammenbruch zu verhindern, müssen Erkrankte Überlastungen vermeiden, immer wieder Pausen einlegen. Pacing heißt das. Es ist eine ständige Gratwanderung, der Kopf will, aber der Körper darf nicht.
Nach dem Klinikaufenthalt geht bei Fallahi gar nichts mehr
Die sieben Wochen Bewegungstherapie in der Klinik hinterlassen Spuren bei Faraz Fallahi. Danach hätten ihm die Pfleger zu seinem Auto helfen müssen, sagt Fallahi, alleine hätte er es nicht mehr geschafft. Wenig später kommt er nicht mehr aus dem Bett, muss wieder bei seinen Eltern einziehen, braucht rund um die Uhr Pflege. Hätten Ärztinnen und Ärzte erkannt, dass Fallahi eine Form des Erschöpfungssyndroms hat, wäre es wohl nicht so weit gekommen, sagt Martina King.
Seine Frau sieht er nur an Wochenenden und Montagen. Die Krankheit schweißt sie auch zusammen. „Ich weiß, dass er mich liebt, dafür brauche ich keine Bestätigung. Und das ist so ein schönes Gefühl“, sagt Cassandra Fallahi. Und: „Wenn ich ihn nicht bedingungslos lieben würde, hätte ich längst aufgegeben.“ Faraz Fallahi sagt: „Wäre Cassandra nicht gewesen, hätte ich längst Schluss gemacht.“
Eigentlich ist Faraz Fallahi keiner, der aufgibt. Fallahi schließt sein Informatikstudium mit Einser-Diplom ab. Er beginnt eine Promotion und gründet parallel mit einem Kumpel eine Firma. Er arbeitet viel, reist viel, macht viel Sport, trifft sich oft mit Freunden. „Ich kenne nur extrem“, sagt Fallahi.
Ein Hilfeschrei über Twitter zieht weite Kreise
Heute twittert er viel über die Krankheit, macht Aufklärungsvideos, plant Audio-Konferenzen auf Twitter, sogenannte Spaces, vernetzt Expertinnen und Betroffene über das von ihm gegründete ME-Kollektiv. Die Krankheit wurde ein Teil seiner Identität. Sie machte ihn zum Aktivisten: 11 000 Leute folgen ihm auf Twitter. Das hat ihm vielleicht das Leben gerettet.
Am 7. Oktober – er ist da gerade in seinem schlimmsten Zustand – schickt Faraz Fallahi einen Tweet raus. Er schreibt von Hoffnungslosigkeit und Gedanken ans nächste Leben. Und in zweieinhalb Jahren habe er es nicht geschafft, einen Arzt zu finden, der ihm daheim eine Infusion legt, steht darin. Wie auch, die meisten Mediziner sind für die Krankheit nicht geschult. Bundesweit gibt es nur zwei Schwerpunktzentren, eins für Erwachsene in Berlin, eins für Kinder in München. „Es bräuchte mindestens 20“, sagt Martina King.
Fallahis Tweet zieht weite Kreise. Politikerinnen und Promis verbreiten seinen Hilferuf, Nutzer bringen den Hashtag #HelpFaraz, helft Faraz, in die Welt. Die Ärztin Anna Brock wird auf seinen Fall aufmerksam. Sie ist selbst Long-Covid-Betroffene, ist dazu schon in Fernsehdokus aufgetreten. Sie besucht Faraz Fallahi zu Hause, sucht nach Therapiemöglichkeiten für ihn.
Blut raus, reinigen, Blut wieder rein – und Fallahi geht es besser
In den Krankenhäusern der Umgebung hätte es nur Absagen gegeben, sagt Fallahi. Vielleicht liegt es daran: Die Kliniken sind meist nicht auf Patienten wie Fallahi ausgelegt. Die Zimmer müssten abgedunkelt werden, das Personal kann ihn nicht jederzeit ansprechen – er muss sich an seine Ruhezeiten halten. Das alles bedeutet Mehraufwand in den ohnehin ausgelasteten Krankenhäusern. Aber die Ärztin Brock sucht weiter nach einem Platz für Fallahi. Schließlich sagt eine Klinik in Schleswig-Holstein zu. Allein die Fahrt quer durch die Republik ist ein extremes Risiko für Fallahi. Er übersteht sie unter Vollnarkose.
Vor Ort bekommt er eine Immunadsorption, das Blut wird einmal aus dem Körper rausgeleitet und von Autoimmunkörpern gereinigt, die das eigene Immunsystem angreifen. Dann wird das Blut wieder in Fallahis Adern zurückgepumpt. Bei ihm verändert das vieles.
Heute kann Fallahi einen kleinen Strahl Sonne in sein Zimmer lassen, das erste Mal seit zwei Jahren. „Das ist wie Urlaub“, sagt er. Fallahi übt Sitzen am Bettrand, eine Minute und 15 Sekunden schafft er. Er kann wieder Musik hören und, endlich, die Songs seiner Lieblingsband Radiohead wieder in den Trommelfellen vibrieren lassen. Die Fallahis können wieder gemeinsam „Scrubs“ gucken, sich berühren, mehr als ein paar Minuten reden. Dinge, die die Welt bedeuten.
Berührungen, Musik, reden: Plötzlich geht wieder vieles
Hier müsste die Geschichte eigentlich aufhören. Alle sind glücklich, Punkt. So wäre es bei Hollywood, so ist es in vielen Reportagen. Aber das Leben geht nach diesen Happy Ends immer weiter. Viel Zeit miteinander haben bedeutet immer noch, dass nach 40 Minuten Schluss ist, dann muss Fallahi Pause machen. Bei all den Besserungen braucht er immer noch rund um die Uhr Pflege. Er hat immer noch keinen Hausarzt, der ihn zu Hause betreuen kann. Und die Immunadsorption, die Fallahi so geholfen hat, ist keine Lösung für alle ME/CFS-Erkrankten, weil die Krankheitsbilder zu unterschiedlich sind. Vieles um das Syndrom ist immer noch nicht erforscht. Und auch Fallahi holen nach der Therapie die Rückschläge ein – und damit die Zweifel. Er sagt: „Vielleicht habe ich noch einen Monat, vielleicht ein Jahr, zehn Jahre werden es aber nicht mehr sein.“ Er klingt dabei ganz ruhig, als würde es um Durchschnittswerte aus einer Gesundheitsstatistik gehen und nicht um sein Leben.
Das Größte wäre für Faraz und Cassandra Fallahi, wenn sie wieder zusammen in ihrer Tübinger Wohnung wohnen könnten. Faraz müsste dafür in den Rollstuhl können, „das wäre Freiheit“, sagt er, und: „Ich mache alles Mögliche, um im Sommer nach Hause zu können.“ Aber die Fallahis haben gelernt, nicht zu viel zu hoffen. So ist das, wenn Hoffnungen immer wieder zerschlagen werden.
Zwei Wochen nach dem letzten Gespräch schickt Fallahi eine E-Mail: „Mir geht es seit Samstag sehr sehr schlecht, kann nichts mehr machen.“
Hinweis der Redaktion: Faraz Fallahi kämpfte darum, wieder ein eigenständiges Leben zu führen. Am 25. Februar 2025 hat uns die Nachricht erreicht, dass Faraz Fallahi am Tag zuvor verstorben ist.
Spenden für Forschung und Aufklärung zu ME/CFS
Plattform
Faraz Fallahi hat die Plattform me-kollektiv.de ins Leben gerufen. Das Kollektiv vereint Medizinerinnen, Psychologen, Wissenschaftlerinnen und Betroffene, die öffentlich über die Krankheit aufklären.
Unterstützung
Die Aktivitäten können über ein Spendenkonto von Faraz Fallahi unterstützt werden: paypal.me/farazAktivismus. Über die Plattform mecfs-research.org kann für die Forschung zu ME/CFS gespendet werden.