125 Jahre Tradition: Wer sind die jungen Sänger der Stuttgarter Hymnus-Chorknaben? Was bedeutet ihnen der Chor? Und wie ist das eigentlich, wenn man 14 ist und die glasklare Stimme auf einmal kratzt und hüpft?
Es ist Freitag, der Knabenchor probt ab 16 Uhr. Das Chorheim an der Birkenwaldstraße in Stuttgart-Nord wirkt von außen wie ein normales Jugendzentrum. Ein großes Gebäude und Kinder, die herumtoben, herumrennen und im Innenhof Fußball spielen. Es wird deutlich: Die Hymnus-Chorknaben sind großartige Sänger – aber sie sind eben auch einfach Jungs. Jungs, die sich hier mit ihren Freunden treffen, kicken und Quatsch machen.
Aber kurz vor 16 Uhr stürmen sie nach oben in den Probenraum. Ein heller, lichtdurchfluteter Raum, ein großes Klavier in der Mitte, Platz für nahezu hundert Sänger. Sie tuscheln miteinander. Als der Chorleiter Rainer Johannes Homburg und Stimmbildner Lucian Eller eintreten, kehrt Ruhe ein. Um Punkt 16 Uhr beginnt die Probe – eine besondere, denn am Folgetag steht eine wichtige Aufzeichnung für den Südwestrundfunk an.
Mit der Stimme glatt bügeln?
In einem gemeinsamen Aufwärmen bereiten die Knaben sich auf den Gesang vor. Die Stimme lockern, die Aussprache verdeutlichen, die Atmung kontrollieren. „Stellt euch vor, ihr bügelt eine Hose“, stellt Eller einen Vergleich vor, führt die Bewegung sanft vor, um den Sängern zu erklären, wie man schöne, geschmeidige Töne hervorbringt. Danach wird gesungen.
Bach, Brahms und Gotthold Kimmerle, Komponist und erster Chorleiter des Hymnus. Nach Fußballspielen und Toben wechseln die Knaben mühelos in eine Ernsthaftigkeit. Sie erfüllen den Chorraum mit einer Musik, die in jeder Ecke hör- und nahezu greifbar wird. Die Stimmen sind hell, glasklar, engelsgleich. Chorleiter Homburg gibt Anweisungen: mehr Tempo, längere Töne, langsameres Atmen. Es sind Unterschiede, die von außen kaum hörbar sind, den Chor aber zur Perfektion bringen.
Musikalische Früherziehung
Felix und Daniel sind beide Sänger des Knabenchors. Die beiden sind seit einigen Jahren „im Hymnus“, wie man unter den Profis sagt. Felix war fünf Jahre alt, als er bei den Minis anfing, und es lässt sich erahnen: Das war musikalische Früherziehung, die gefruchtet hat. „Ich singe seit meinem zweiten Lebensjahr. Mit fünf bin ich zu den Hymnus-Minis gekommen, und es hat mir direkt Spaß gemacht nach der ersten Probe.“ Mittlerweile ist er 13 und durfte sogar schon bei einigen Konzerten Soli singen. Ähnlich war es auch bei dem 12-jährigen Daniel: „Mein Papa hat schon immer in Chören gesungen. Und dann hat er mir vorgeschlagen, mal zu schauen, wie es mir beim Hymnus gefällt.“ Es gefiel ihm. Er startete im B-Chor und ist mittlerweile seit fünf Jahren dabei. Dass Daniel und Felix im Hymnus singen, einem der ältesten Knabenchöre in Baden-Württemberg, erfüllt sie mit Stolz. Das ist spürbar, wenn sie lächelnd davon erzählen.
Was tun, wenn der Stimmbruch sich ankündigt?
Doch in wenigen Jahren wird auch für Felix und Daniel eine Umstellung stattfinden. Ob man will oder nicht, irgendwann kommen junge Männer in ein Alter, in dem die Stimme nicht mehr so mitmacht, wie man sich das vorstellt: Der Stimmbruch steht vor der Tür. Was passiert dann, wenn die große Leidenschaft von zwei Bändern im Hals abhängt? Wenn der Sprung vom Kind zum Erwachsenen greifbar wird?
Ist man zu alt für den Knabenchor, gibt es die Möglichkeit, nach dem Stimmbruch in den Männerchor einzusteigen. In der Übergangszeit unterstützt Stimmbildner Lucian Eller die Jungen und bereitet mit ihnen ihre neue Stimme vor – so auch bei Felix, der heute 17 Jahre alt ist. Inzwischen ist er seit knapp anderthalb Jahren im Männerchor.
Zurechtfinden zwischen Kind und Erwachsensein
Der Übergang fiel ihm zunächst nicht leicht und war von einer großen Portion Melancholie begleitet: „Der Abschied vom Knabenchor war für mich eine schwierige Sache. Man ist einmalig Knabe. So eine hohe Stimme hat man nur einmal und danach nie wieder“, sagt er. Auch der Einstieg in den Männerchor bringt für ihn anschließend erst einmal eine große Umstellung. Felix war 15 Jahre alt, als er im Männerchor anfing: „Am Anfang hat man noch eine kleinere Stimme, insbesondere im Vergleich zu den Älteren. Dann kommt man da in die Probe rein und muss sich mit der neuen Stimme wirklich erst einmal zurechtfinden“, erzählt er.
Derzeit ist Felix angehender Abiturient. Die Chorproben und die Prüfungen unter einen Hut zu bringen, ist definitiv nicht immer einfach, erzählt er. Aber der Hymnus gebe ihm Kraft in der Zeit und sei ein lohnenswerter Ausgleich: „Ich brauche den Hymnus auch wirklich. Ich muss da hingehen. Wenn ich nur in die Schule gehen würde, dann würde ich verrückt werden“, erzählt er und fügt hinzu: „Der Hymnus wird immer ein großer Teil in meinem Leben sein.“
Verbundenheit über Altersgruppen hinweg
Um 18 Uhr proben der Knabenchor und der Männerchor für die anstehende Aufnahme noch einmal gemeinsam. Die Jungs kehren aufgekratzt zurück vom Fußballspielen in der Pause, die Männer treten ruhiger, in Gespräche vertieft, in den Probenraum ein. Anschließend singen sie gemeinsam – der jüngste Sänger noch in der Grundschule, der älteste Berufseinsteiger.
Während die Stimmen der Jungen sich über die Jahre wandeln, bleibt eines gleich: ihre Leidenschaft für den Gesang und ihre tiefe Verbundenheit mit dem Hymnus. Das ist an diesem Nachmittag deutlich spürbar.
Stuttgarter Hymnus-Chorknaben
Der Knabenchor wurde 1900 durch Paul Lechler gegründet. Er wird durch die Evangelische Kirche getragen und institutionell durch die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg gefördert. Der Chor unterteilt sich in die Hymnus-Minis (musikalische Früherziehung für Jungen im Vorschulalter), den A-Chor (Nachwuchschor für die erste und zweite Schulklasse), B-Chor (Vorchor für die dritte und vierte Klasse), den C-Chor (den Haupt-Knabenchor) sowie den Männerchor für die Zeit nach dem Stimmbruch. Außerdem wird eine spezielle Stimmbegleitung für die Ausbildung der Männerstimme angeboten. Der Chor ist jährlich bei rund 50 Konzerten und Gottesdiensten zu erleben. Das Repertoire reicht von geistlicher Vokalmusik, Werken des Frühbarock bis zur Gegenwart, aber auch Oratorien, Passionen und Kantaten. Mehr Informationen finden Sie unter: www.hymnus.de.