Als Archäologin hat Barbara Ertl nie etwas Großartiges gefunden. Ihr Mann Gerhard Ertl, Chemie-Nobelpreisträger, war erfolgreicher. Heute lebt das Paar in einem Berliner Seniorenheim.
Eine betagte Frau fährt einen betagten Mann im Rollstuhl an einen Zweiertisch des Speisesaals. Zum Mittag gibt es Rinderbrühe, Königsberger Klopse, Rote Grütze mit Schmand. Bald kann das Paar hier in der Seniorenresidenz Diamantene Hochzeit feiern: Barbara Ertl und ihr Mann Gerhard, Nobelpreisträger in Chemie.
Rückblende. Um die Mittagszeit am 10. Oktober 2007, es ist sein 71. Geburtstag, tritt Gerhard Ertl mit geröteten Wangen vor die Reporter, die sich in seinem Institut zusammendrängen. „Zunächst war ich sprachlos“, sagt er in die Kameras, „und ich muss gestehen, mir kamen die Tränen.“ Auch seiner Frau werden ein paar Mikrofone hingehalten: „Nein, über seine Arbeit kann er mit mir nicht reden, weil ich es nicht verstehe“, sagt sie forsch. „Ich habe keine Ahnung, was er macht.“
Ertl ist immer wieder als Kandidat gehandelt worden, doch am Vortag wurde der Physiknobelpreis an Peter Grünberg vom Forschungszentrum Jülich vergeben. Dass nun auch die Chemie nach Deutschland geht, kann sich Ertl beim Frühstück noch nicht vorstellen. „Heute brauchen wir auf nichts zu warten, da wird nichts passieren“, sagt er zu seiner Frau und fährt ins Labor.
Der Anruf aus Schweden
Dort erreicht ihn ein Anruf. Es ist die Vorwahl von Schweden. Ein Sekretär der Akademie der Wissenschaften: „Ich darf Ihnen die freudige Mitteilung machen . . .“ Ertl hat den Preis. Er wird um Stillschweigen bis zur offiziellen Pressekonferenz gebeten. „Darf ich es wenigstens meiner Frau sagen?“ – „Bitte warten Sie die halbe Stunde.“ Ertl wartet. In diesen Minuten sei er noch mal sein ganzes Leben durchgegangen, erzählt er.
Als er dann seine Frau erreichen will, kommt ihm ein Journalist zuvor: „Guten Tag, kann ich Ihren Mann sprechen?“ – „Wieso?“ – „Ich will ihm gratulieren.“ – „Wieso? Zum 70. hat doch auch keiner gratuliert.“ – „Nein, es geht um den Nobelpreis.“ Barbara Ertl ist so perplex, dass sie den Hörer auflegt – und die Tochter anruft: „Du, Papi hat den Nobelpreis.“ – „Mami! Physik war gestern.“ – „Nicht Physik. In Chemie.“ – „Mami! Papi ist Physiker.“ Nun, ganz falsch liegt die Tochter nicht, Papi hat ja schließlich mal Physik studiert. Dann ruft noch seine Schwester an: „Hallo Barbara, ich will dem Gerhard gratulieren.“ – „Woher weißt du es denn?“ – „Na hör mal, ich weiß doch, wann mein Bruder Geburtstag hat!“
Es ist ruhig geworden um die Ertls. Ihnen reicht die kleine Wohnung im Augustinum, ihm reicht der kleine Schreibtisch, wo der Apple-Laptop seinen Platz hat. Sie machen keine großen Ausflüge. Vor zwölf Jahren erfuhr er die Diagnose: Multiple Sklerose. Inzwischen braucht er den Rollstuhl. Sein Geist ist geschmeidig wie eh und je. „Ich verfolge auch noch alles, was in meinem Fach geschieht“, sagt Gerhard Ertl. Seine Frau hatte kürzlich eine größere Zahn-OP, die sie etwas aus der Bahn warf. Jetzt ist sie wieder fit.
Seit sechs Jahren leben die beiden in Kleinmachnow bei Berlin. Viel Kontakt zu den anderen 300 Bewohnern haben sie nicht. Gemeinschaftsabende lassen sie oft ausfallen. „Wir haben auch sonst keinen großen Freundeskreis. Wir genügen einander“, sagt er. „Wir haben die gleiche Art, auf die Welt zu sehen“, sagt sie. Alle zwei Wochen schaut die Tochter vorbei. Sie ist Ärztin in Berlin, der Sohn Maschinenbauer in Bamberg. Ab und zu besuchen frühere Kollegen ihren alten Professor.
Im Betreuten Wohnen sind die Ertls zu Langschläfern geworden. Nach dem Aufstehen reibt sie ihm die Beine ein. Vor zehn frühstücken sie selten, danach lassen sie den Tag so dahinfließen. Er liest ausgiebig Zeitung, sie macht Handarbeit. Seit ihrer ersten Babydecke gehen die Aufträge nicht mehr aus. 20 Stück hat sie mittlerweile gestrickt, natürlich auch für die drei Enkel und den Urenkel.
Die klassische Musik führt sie zusammen
Beide lieben klassische Musik – „von der Renaissance bis knapp unter zeitgenössisch“, sagt Barbara Ertl. Das Regal quillt über von CDs. In einer Ecke steht das elektrische Klavier, auf dem er manchmal spielt. Sie probierte es neulich auch mal wieder, mit wenig Erfolg. Einst hat die Musik geholfen, zwei Lebensstränge zu verknüpfen.
Gerhard Ertl kommt 1936 in Bad Cannstatt zur Welt, macht Abitur am Kepler-Gymnasium. Sein Physik-Studium an der Technischen Hochschule Stuttgart finanziert er mit einer Tanzmusik-Combo. Ertl am Piano. Nach dem Diplom wechselt er an die TU München.
Barbara Maschek wird 1941 als Spross deutsch-schwedisch-lettisch-russischer Vorfahren in Lodz geboren. Im Zweiten Weltkrieg flüchtet die Familie nach Thüringen. Sie erinnert sich noch an die Eiseskälte auf dem Bahnhof. Und dass sie vom Bahnsteig erst mal eine Ewigkeit gehen musste – zumindest aus Sicht einer Vierjährigen.
Sechs Jahre später die Flucht aus der DDR nach Franken, wo der Vater bereits eine Spritzgussfabrik aufgebaut hat. Nach dessen Tod 1957 wird die Familie ein reiner Frauenhaushalt. „Meine Mutter und meine Schwester waren sehr dominante Persönlichkeiten“, sagt Barbara Ertl. Sie verkaufen die Fabrik und ziehen nach München. Mit dem Erlös kann die Mutter bis zum Ende gut leben.
Barbara würde nach dem Abitur gerne Tontechnik in Nürnberg studieren. Mutter und Schwester erlauben es nicht. Macht sie eben einen Grundkurs in Steno und Schreibmaschine. Aber eigentlich will sie weg. Nach England als Au Pair? Das darf sie. „Eine ganz tolle Zeit“, sagt sie. „Ich habe die Sprache lieben gelernt.“ Mit dem Großen Cambridge-Examen kommt sie 1962 zurück. Was jetzt? Sie bewirbt sich auf ein Inserat: Hochschulinstitut sucht Halbtags-Sekretärin. „Und dann macht mir dieser Mann die Tür auf!“ Das Vorstellungsgespräch mit dem wissenschaftlichen Assistenten Herrn Ertl läuft gut. Sie hat die Stelle.
Beide merken, dass die Musik sie verbindet. Sie erzählt von ihrem Konzertflügel, und dass sie nicht so recht weiß wohin mit dem sperrigen Ding. Bei ihm ist noch Platz. Er gibt ihr auch gleich einen Schlüssel für die Wohnung: „Falls Sie einmal Lust haben zu spielen, wenn ich nicht da bin.“ Sie kommt auch gerne, wenn er da ist. Das vierhändige Spiel könnte besser klappen, aber sonst harmoniert es wunderbar. Nach einem halben Jahr macht er ihr einen Heiratsantrag. Ob sie es dem Reporter wohl erzählen dürfe? Gerhard Ertl nickt. „Er hat mich dabei noch gesiezt!“
Kinetik der katalytischen Oxidation von Wasserstoff an Germanium-Eiskristallen
Ihr spukt schon länger diese Italien-Sache im Kopf herum. Und weil er mit der Hochzeit ja warten will, bis er mit seiner Doktorarbeit über die Kinetik der katalytischen Oxidation von Wasserstoff an Germanium-Einkristallen fertig ist, nutzt sie die „freie Zeit“, wie sie sagt, um in Rom Italienisch zu lernen. Arbeit findet sie in einer Pension. Acht Monate später ist sie wieder da – und sie heiraten. „Wir haben uns später oft gefragt, warum wir das nicht gleich gemacht haben, warum ich überhaupt nach Rom gegangen bin.“
Ein Job muss her, egal welcher. „Wir brauchten das Geld, um uns eine Wohnung einzurichten.“ Sie fängt als Sekretärin bei einer US-Elektronikfirma an. „Wollen wir eigentlich Kinder?“, fragt sie einmal ihren Mann. Er sagt: „Am liebsten einen Bub und ein Mädchen. Und der Bub spielt Cello und das Mädchen Geige, dann haben wir mit mir ein Klaviertrio.“ So kommt es. Wobei die Kinder bis heute darauf bestehen, das sei Zufall und die Instrumentenwahl ihr eigener Wunsch gewesen.
Gerhard Ertl ist beruflich viel unterwegs. Umso wichtiger sind Familienrituale wie das gemeinsame Abendessen. Dann sitzen die Vier am Tisch und sprechen über den Tag. Chemie hat da wenig Platz. Versteht eh keiner. „Gerhard startete ein paar Versuche, aber irgendwann gaben wir auf. Ich weiß nur, es hat was mit Katalyse zu tun“, erzählt Barbara Ertl. Freitagabends fahren sie in ihr Ferienhaus außerhalb von München. Da suchen Papi und Mami Schwammerl mit den Kindern, musizieren viel mit ihnen. „Nein, alleinerziehende Mutter war ich nicht.“ Aber für den Fall, dass ihm auf seinen Reisen etwas zustößt, erdenkt sich Barbara Ertl einen Fluchtpunkt: Venedig. „Ich wär da hingezogen, ich hätt’s gemacht!“
Sie ist für alles Technische und Praktische zuständig, er sorgt für die Finanzen. Er gibt durch seinen Beruf vor, wohin es die Familie als nächstes verschlägt, sie folgt ihm: Hannover, München, Berlin, zwischendurch Pasadena, Milwaukee, Berkeley. „Nur beim Umzug hierher ins Augustinum, war ich treibende Kraft“, sagt sie.
Im Urlaub auf Sardinien sieht Barbara Ertl, wie Archäologen eine voretruskische Brunnenanlage freilegen. Sie bleibt lange stehen. Zurück in München wird sie Studentin der Klassischen Archäologie. Und weil sie nicht drumrum kommt, fängt sie gleich mit Altgriechisch an. Sie ist 34, die Kinder acht und zehn. „Die anderen Studenten kamen frisch von der Schule, ich quälte mich so.“ 1981 hat sie ihren Magister. „Und dann fiel mir die Decke auf den Kopf. Ich musste etwas arbeiten. Aber was – ohne gescheite Ausbildung? Mit meiner Archäologie konnte ich nichts anfangen, das war mir von Anfang an klar. Ein reines Hobby-Studium.“
Sie liest: „Hilfsorganisation sucht ehrenamtliche, englischsprachige Sekretärin.“ So landet Barbara Ertl bei Karlheinz Böhms „Menschen für Menschen“. Erst nur, um Post und Spenden zu sortieren, die sich bis unter die Decke stapeln. Dann baut sie die Deutschlandzentrale mit auf, hält Vorträge, stellt Projekte vor, fliegt selbst nach Äthiopien. „Ich konnte mich damit identifizieren.“
Ihre Alt-Stimme im Oratorienchor
1986 der nächste Umzug. Diesmal Berlin. Barbara Ertl wird Sekretärin am Philosophischen Institut der FU. Abends singt sie im Oratorienchor. Benjamin Brittens War Requiem im Dom bleibt ihr ewig in Erinnerung. „Mein Highlight.“ Mit dem Einzug ins Seniorenheim lässt sie dann ihre Alt-Stimme ruhen. So ein Leben durchziehen unterschiedlichste Tonlagen. Mit 81 Jahren weiß man das. Inzwischen hat Barbara Ertl einen neuen Sehnsuchtsort. Falls sie einmal übrig bleiben sollte, will sie ihre Enkelin besuchen, die lebt in Australien. „Man braucht solche Trostpflästerle.“
Obgleich es etwas an Frömmigkeit hapert, sind beide in der evangelischen Kirche – „als Kulturchristen“, wie Gerhard Ertl sagt. Was mal nach dem Tod kommt, darüber kann selbst ein Chemie-Nobelpreisträger wenig sagen. Solche Fragen gehören auch eher ins Fach der Dichter – mit Koryphäen wie Erich Kästner: „In Büchern liest man groß und breit, selbst das Unendliche sei nicht unendlich. Man dreht und wendet Raum und Zeit, man ist gescheiter als gescheit. Das Unverständliche bleibt unverständlich.“
Wie ist es, wenn man einenprominenten Lebenspartner hat? In unserer Serie erzählen Menschen, ob der Glanz auf sie ausstrahlt oder ob sie bloß im Schatten stehen.