Peer Meinert will seinen Ruhestand in Nagold genießen. Foto: Okapia

Nach 33 Jahre als Auslandskorrespondent ist Peer Meinert nach Deutschland zurückgekehrt. Seit drei Monaten lebt er mit seiner Frau in Nagold. In dem schwäbischen Städtchen ist vieles anders als erwartet.

Nagold - Das Flugzeug, das uns in die neue Heimat brachte, landete an einem trüben Novembertag auf dem Stuttgarter Flughafen. Es war spätabends, wir kamen aus London, die erste Aufgabe hieß: Euros besorgen. Ich lasse meine Frau und unsere Koffer alleine und mache mich auf die Suche nach einem Geldautomaten. Ich war müde, die Gänge des Flughafens schienen mir unendlich lang, Geldautomaten sind offenbar Rarität auf dem Stuttgarter Airport.

Dann geschah etwas Eigenartiges. Unwillkürlich musste ich an das erste schwäbische Wort denken, das ich als Nichtschwabe in meinem Leben gehört hatte. Das Wort hieß „Flughäfele“. Die Tante eines Freundes war aus Stuttgart nach Frankfurt zu Besuch gekommen. Sie erzählte uns, der Flughafen in Stuttgart sei derart klein, eigentlich könne man das lediglich ein „Flughäfele“ nennen. Ich war damals zehn oder zwölf Jahre alt, doch das putzige Wort gefiel mir auf Anhieb. Es hat nachhaltige Wirkung gehabt, prägte bis heute mein Bild von den Schwaben und allem Schwäbischen – dabei ist der Airport Stuttgart doch längst kein Flughäfele mehr.

Der erste Weg führt uns ins Rathaus unserer neuen Heimatstadt Nagold. Freunde hatten uns belehrt, ohne amtliche Anmeldung gehe in Deutschland gar nichts. Nach vielen Jahren im Ausland fühlten wir uns ein wenig unsicher: In London und den USA, wo wir die vergangenen zehn Jahre gelebt hatten, zum Beispiel gab es keine amtliche Anmeldung: Als Beweis, dass man einen Wohnsitz hat, genügte eine Strom- oder Gasrechnung auf den eigenen Namen. Ganz anders etwa in Rom, dort mussten wir seinerzeit stundenlang in schlecht beheizten Amtsstuben warten, die Beamten waren alles andere als freundlich, wir empfanden die Prozedur als Zumutung.

War das nicht früher ganz anders?

Als wir jetzt vor dem Nagolder Rathaus standen, wussten wir nicht recht, was auf uns zukommt. Wir hatten uns mit einem Stapel von Dokumenten bewaffnet. Insgeheim erwarteten wir staubige Amtsstuben, langes Warten sowie strenge und unbarmherzige Beamte – deutsche Bürokraten haben schließlich ihren ganz besonderen Ruf in der Welt. Doch die Realität war anders, ganz anders: eine nette, junge Beamtin, eine reibungslose Prozedur, freundlich und effektiv. Alles ganz entspannt. Lächelnd nahm die junge Frau unsere Fingerabdrücke, erklärte die Vorteile des elektronischen Personalausweises. Dass wir nach so vielen Jahren im Ausland ein polizeiliches Führungszeugnis benötigten, schien ihr beinahe peinlich zu sein. „Das kostet 13 Euro.“ Fast schien es, als wolle sie sich dafür entschuldigen. Als wir nach einer Stunde das Rathaus verließen, brachte meine Frau – immerhin eine gebürtige Schwäbin – nur zwei Worte des Erstaunens heraus: „Diese Freundlichkeit!“ War das nicht früher ganz anders?

Die erste Irritation kam mit dem ersten Schnee. Selbst als gebürtiger Frankfurter und Angehöriger der aufsässigen 68er-Generation weiß ich, dass Schneeschaufeln in Deutschland zur Bürgerpflicht gehört. Zumindest zur Mieterpflicht. Umso mehr musste das im Land der Kehrwoche gelten – dachte ich mir jedenfalls. Doch was sich auf den Bürgersteigen meiner neuen Heimatstadt abspielte, ließ mein Bild von Schwaben erheblichen Schaden nehmen. Selbst in der Nagolder Innenstadt erlebte ich vor nicht wenigen Häusern eine Rutschpartie, und das mehrere Tage lang. Ich verstand die Welt nicht mehr.

In dem Haus, in dem wir nun wohnen, gibt es drei Parteien, ich hatte eindeutige Regelungen erwartet, war bereit, meinen Pflichten nachzukommen – doch einer der Mieter meinte lediglich: „Wir sehen das ganz entspannt.“ In unserem Hausflur hängt nicht einmal ein Plan für die wöchentliche Kehrwoche. Als ich 1978 als junger Mann meinen ersten Journalistenjob in Stuttgart antrat, hatte mich mein Vermieter in Sachen Kehrwoche noch aufs Strengste eingeschworen. Ohne Bekenntnis zur schwäbischen Kehrwoche hätte ich seine Wohnung niemals erhalten.

Gesegneter Stuttgarter Speckgürtel

Es hat sich was getan im Ländle, man spürt es allerorten. Sommer 1978: Damals, als ich mein Volontariat bei der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart begann, musste gerade Hans Filbinger als Ministerpräsident abdanken. Zwei Jahre später schafften es die Grünen ins Südwestparlament – erstmals in Deutschland. Unter den Grünen war auch ein gewisser Winfried Kretschmann. Der sprach damals schon so langsam und bedächtig wie heute. Hätte jemand prophezeit, dass der junge Mann einmal Landesvater von Baden-Württemberg werden würde – die Landtagsabgeordneten wären parteiübergreifend in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Glückliches Baden-Württemberg, gesegneter Stuttgarter Speckgürtel, behütetes Nagold. Die Kleinstadt ist in den letzten 30 Jahren aufgeblüht. Viele Fachwerkhäuser sind renoviert, die City aufgeputzt und verkehrsberuhigt, der Fluss Waldach renaturiert. In der Innenstadt sind Straßencafés geradezu aus dem Boden geschossen, die Gäste trinken italienischen Schnickschnack wie Aperol Spritz. Man sieht es auf den ersten Blick: Die Menschen lassen es sich gut gehen, der Wohlstand ist mit Händen zu greifen. Wie anders war es da etwa in Washington: Zwar gab es luxuriöse Villenviertel mit großen Gärten und alten Bäumen, aber einen Steinwurf weiter auch Gegenden, die man bei Dunkelheit füglich meiden sollte. In Nagold frage ich mich: Wo bitte sind hier die Problemzonen?

Allerdings gibt es auch Grenzen der Entspanntheit. Zum Beispiel die Mülltrennung. Die nette Dame im Rathaus verwendet die weitaus meiste Zeit unseres rund einstündigen Besuchs darauf, uns die Geheimnisse des Recyclings näherzubringen: Biomüll, Restmüll, Gelber Sack, Papier und Glas. Wir als Mülltrennungs-Novizen zeigen uns willig. Aber ziemlich kompliziert ist dieses System schon.

Zwar gab es auch in London so etwas wie Mülltrennung, doch die bestand aus zwei Tonnen – eine für Papier, die andere für den Rest. In allen übrigen Städten, in denen wir gelebt haben, kam alles in ein und dieselbe Tonne – die wurde dafür in Singapur allerdings jeden Tag geleert, wegen des tropisch-feuchten Klimas. Hatte auch was.

Die deutsche Form der Gründlichkeit

Nun müssen wir uns also an die deutsche Form der Gründlichkeit gewöhnen. Blöderweise treffen die diversen Mülltonnen erst nach mehreren Wochen bei uns ein. In der Zwischenzeit sind wir auf uns selbst gestellt: Wir werden zu Dauerkunden auf dem Recyclinghof. Dort gibt es Helfer, die uns mülltechnischen Laien auf die Sprünge helfen. Was uns erneut auffällt: Zwar stehen die Helfer den lieben, langen Tag bei eisiger Kälte auf dem Recyclinghof, zu den Gutverdienern unserer Gesellschaft gehören sie ganz bestimmt nicht – und trotzdem sind sie saumäßig nett.

Überhaupt: diese neue Freundlichkeit. Ob Verkäufer oder Kellnerin, die Dame beim Busticketverkauf oder der Mann an der Tankstelle: Niemand verzichtet mehr auf die Abschiedsfloskel „Schönen Tag noch“. Selbst die angeblich chronisch gut gelaunten Italiener haben wir nicht halb so herzlich erlebt, meint meine Frau ganz entschieden. Ich hingegen empfinde die neue schwäbische Freundlichkeit als eher grenzwertig, ehrlich gesagt könnte ich auf manches „Schönen Tag noch“ gerne verzichten. Wo gibt es eigentlich noch den schlecht gelaunten Schwaben, den schwäbischen Bruddler, diesen ebenso sympathischen wie notorischen Nörgler?

Dann ist da noch die Sache mit dem Dialekt. Ich gehe morgens die Zeitung kaufen, mitunter hole ich Brötchen, oftmals trinke ich einen Kaffee – und überall höre ich zum Abschied „Tschüss“. Wo ist das schöne „Ade“ oder, noch schöner, das anheimelnde „Adele“? Es dauerte Wochen, bis ich das „Adele“ erstmals hörte – von einer alten Bäckereiverkäuferin auf der Alb.

Adele ist viel schöner als Tschüss

Dabei war es gerade die Mundart, die es mir angetan hatte, lange bevor ich erstmals in den Südwesten gereist bin. Dank meiner Frau sind eine Menge schwäbischer Ausdrücke in unseren internen Familien-Code eingegangen: Gugg, Gsälz oder das zärtliche Schätzle. Ich frage mich: Wenn die Leute heute in der Öffentlichkeit „Tschüss“ sagen, was sagen sie dann im Schlafzimmer zueinander – Sweatheart? Neulich beim Drogerie-Discounter bat meine Frau um eine Gugg, eine Tüte also. Die – ebenfalls schwäbische – Verkäuferin bot ihr daraufhin eine „Permanent-Tasche“ an.

Erst unlängst, zum Tod von TV-Kommissar Dietz-Werner Steck alias Ernst Bienzle zeigte der SWR ein paar ältere „Tatort“-Filme. Fast alle Beteiligten sprachen damals noch mit deutlichem Dialekt-Anklang – dagegen ist aus den neueren Stuttgarter „Tatort“-Serien das schwäbische Idiom fast gänzlich verschwunden.

Es gibt auch Kleinigkeiten, die mir auffallen, etwa in der Weinkultur: Das traditionelle bauchige Vierteleglas, das geformt ist wie ein Becher, mitsamt eines meist grün eingefärbten gläsernen Henkels, scheint fast ausgestorben zu sein. Genannt Henkelglas oder Rutscher. Das Besondere: weil ohne Stiel, liegt der Schwerpunkt tief, ist das Trinkgefäß deutlich standfester als andere Gläser. Mir erschien es seinerzeit geradezu als Inbegriff schwäbischer Bodenständigkeit und Solidität – nicht unbedingt schön, aber praktisch. „Die Schwaben. Zwischen Mythos und Marke“ heißt eine Ausstellung, die derzeit im Stuttgarter Landesmuseum zu sehen ist– auch der Rutscher ist dort ausgestellt. Als Relikt aus vergangener Zeit sozusagen.

Flädlesuppe beim Chinesen

Weniger Dialekt, weniger Kehrwoche, weniger Henkelglas – gibt es so etwas wie ein „Rückgang des Schwäbischen“? Eine Folge der Globalisierung gar? In der Stuttgarter Schwaben-Ausstellung ist von einer Furcht die Rede, das Schwäbische zu verlieren. Dagegen setze man unter anderem das „schwäbische Klischee: Wir spielen damit und nehmen es mit Humor“. Kehrwoche etwa sei auch als „Marke“ zu verstehen, als Erkennungsmerkmal also.

Apropos Globalisierung: Ein Nagolder Traditionslokal in Familienbesitz wurde unlängst an einen Deutsch-Chinesen aus Karlsruhe verkauft – ohne dass darüber viel öffentliches Aufhebens gemacht wurde. Und die interessantesten der neuen Lokale der Stadt werden von türkischstämmigen Wirten geführt, in bester Lage, mit leichter Küche, modern eben. Es gibt auch zwei Shisha-Lounges in Nagold.

Und doch: Angst muss uns die Globalisierung wohl nicht machen, noch hält sich das Schwäbische wacker. „An der Speisekarte ändert sich gar nichts“, betont denn die Kellnerin im nunmehr deutsch-chinesischen Traditionsrestaurant mit fester Stimme. Es gibt weiterhin Maultaschen, Flädlesuppe und Rostbraten. Ist das nicht irgendwie beruhigend?