Viele Ärzte beklagen, dass sie nicht genug Zeit für ihre Patienten haben – und streiken an diesem Dienstag. Foto: dpa

An den Rems-Murr-Kliniken beschäftigte Ärzte klagen über unzählige Überstunden, stressige Schichtdienste und eine äußerst dünne Personaldecke. Ein Betroffener, der sich am derzeitigen Streik beteiligt, erzählt von seinen Arbeitsbedingungen.

Rems-Murr-Kreis - Eigentlich ist Peter Müller gerne Arzt. „Aber von den Arbeitsbedingungen her ist es katastrophal“, sagt der Mann, der am Rems-Murr-Klinikum tätig ist und seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Im Schnitt sehe ich einmal pro Woche einen weinenden Kollegen“, berichtet Müller. Gerade für Berufsanfänger sei die psychische Belastung aufgrund der Arbeitsbedingungen im Klinikalltag oft groß.

Bundesweiter Warnstreik in Frankfurt

Gemeinsam mit rund 5000 Kollegen aus ganz Deutschland hat Müller deshalb an dem bundesweiten Warnstreik am 10. April in Frankfurt am Main teilgenommen. Der Marburger Bund, die Interessenvertretung der angestellten Ärzte, fordert in der derzeitigen Tarifauseinandersetzung mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber (VKA) bessere Arbeitsbedingungen für die Ärzte an kommunalen Krankenhäusern.

Wenn Peter Müller von seinem Alltag als Klinikarzt erzählt, geht es häufig um Zeit, die er nicht hat: Das Arbeiten an Wochenenden, in Spät- und Nachtdiensten geht zulasten seiner sozialen Kontakte. Eine Mitgliedschaft im Sportverein mit regelmäßigem Training sei mit seinen wechselnden Arbeitszeiten nicht vereinbar, Einladungen von Freunden müsse er oft ausschlagen. Ein gemeinsames Familienleben? Äußerst schwierig. „Bei uns sind viele geschieden“, sagt er.

Das liege auch daran, dass man häufig kurzfristig für andere Kollegen einspringen müsse, weil der Krankenstand relativ hoch und die Personaldecke äußerst dünn ist: „Wenn zwei oder drei Leute krank sind, gibt es schon Probleme mit dem Dienstplan. Also gehen viele Kollegen noch krank arbeiten, bis es wirklich nicht mehr geht“, erzählt der Arzt.

Schlaf-Wachrhythmus gestört

Dabei ist die Schichtarbeit für den Körper ohnehin belastend. „Der Schlaf-Wachrhythmus wird dadurch stark gestört. Hinzu kommt, dass man sich oft ungesund ernährt, wenn es schnell gehen muss und man einfach irgendwas vom Lieferservice bestellt“, so Müller. Nach einem Zwölf- oder 24-Stunden-Dienst erfolge meistens noch die Übergabe an die Kollegen, die eigentlich innerhalb der Schicht stattfinden sollte. Das jedoch sei aus Zeitgründen selten machbar. Die Folge: Die Beschäftigten sammeln zahlreiche Überstunden an. Müller berichtet von Ärzten, die mehrere Hundert Überstunden hätten. Diese würden oft nicht dokumentiert, weil sie teilweise einen Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz darstellen.

Darauf angesprochen, erklärt das Rems-Murr-Klinikum, man erfülle im Schnitt über das Jahr den ärztlichen Stellenplan, der sich an der durch das Krankenhausfinanzierungssystem vorgegebenen Refinanzierung orientiere. Trotzdem lasse sich eine hohe Arbeitsbelastung, zum Beispiel durch viele Patienten in der Grippesaison oder neu geschaffene, noch zu besetzende Stellen nicht immer vermeiden. „Diese Mehrarbeit wird dokumentiert und liegt auf dem Niveau des Vorjahres“, erklärt eine Sprecherin.

Die Klinikleitungen seien zudem regelmäßig im Gespräch mit Chefärzten und dem Betriebsrat, um Arbeitsspitzen zu identifizieren, Prozesse zu optimieren und den Arbeitsalltag bei Bedarf anders zu strukturieren oder Schichtbesetzungen anzupassen.

Marburger Bund fordert Arbeitszeiterfassung

Der Marburger Bund fordert hingegen unter anderem eine exakte, manipulationsfreie Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeit. Das passe nicht zum Berufsbild, hält die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber entgegen und argumentiert. „Die tatsächliche Arbeitszeit der Ärzte lässt sich nicht mit der Stechuhr erfassen, da Ärzte am Arbeitsplatz häufig auch erlaubte Nebentätigkeiten wie Gutachten oder Fachvorträge verrichten, für die sie auf die materielle Basis des Krankenhauses zurückgreifen müssen“, schreibt eine Sprecherin.

„Nebentätigkeiten sind nicht die Regel“, heißt es daraufhin vonseiten des Marburger Bunds, der nach eigenen Angaben „regelmäßige Verstöße gegen Arbeitszeitgesetze“ an Kliniken unterschiedlicher Träger beobachtet hat – und das trotz gewisser Ausnahmeregelungen, die im klinischen Bereich gelten. Wohl auch deshalb gebe es unter den angestellten Ärzten „einen Trend zur Flucht in die Teilzeit“, vermutet die Interessenvertretung. Peter Müller kann das bestätigen, er hat seine Arbeitszeit wie viele andere Kollegen ebenfalls reduziert.

Zu wenig Zeit für die Patienten

Können die Patienten unter diesen Bedingungen überhaupt angemessen versorgt werden? „Ich glaube trotz allem, dass wir noch eine gute medizinische Versorgung leisten. Natürlich haben wir den Anspruch an uns selbst, Menschen zu helfen“, sagt Peter Müller. Doch der wirtschaftliche Druck und der Zeitdruck im Klinikalltag könnten Fehler begünstigen. Häufig fehle es zudem an Zeit für die Einarbeitung neuer Kollegen und generell an ausreichend Zeit für den einzelnen Patienten. Bei einer Umfrage des Marburger Bunds in Baden-Württemberg im vergangenen Herbst gaben zwei Drittel der befragten angestellten Ärzte in Kliniken und Praxen an, nicht genügend Zeit für ihre Patienten zu haben.

Angesichts all dessen verwundere es nicht, dass immer mehr Ärzte den klinischen Bereich verließen und stattdessen in der Forschung, in Firmen oder als Medizinjournalisten arbeiteten, konstatiert der Marburger Bund. Das wiederum macht die Versorgung noch schwieriger. „Der Betrieb eines Krankenhauses bedeutet Mangelverwaltung. Sowohl die finanziellen Kapazitäten (Leistungen der Krankenkassen) als auch die personellen Kapazitäten (Anzahl der Ärzte) sind begrenzt. Hier muss die Politik steuernd eingreifen“, so die VKA.

Auch Peter Müller sieht die Politik gefordert: Man müsse sich fragen, ob das derzeitige System in dieser Form sinnvoll sei. „Aber die politische Diskussion erfolgt nicht, weil sich keiner rantraut.“ Der Arzt hofft, dass am Ende der Tarifverhandlungen bessere Arbeitsbedingungen stehen, die in der Praxis umgesetzt werden. „Das erfordert ein Umdenken“, betont er. Beim nächsten Streiktag an diesem Dienstag in Stuttgart wird er sich dafür einsetzen.